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ICH TRÄUME, ALSO BIN ICH
EIN MANIFEST
Was ist des Menschen Feder?
Was treibt ihn voran, bewegt und nährt ihn? Eine seltsame Kraft
ist es. Wer aus ihr schöpft, nennt sie bald Bestimmung, Berufung,
fühlt er doch Verlangen und Leidenschaft. Da gärt und schwelt
es in ihm. Keine Ruhe soll er mehr finden, denn alles in ihm drängt
nach Erfüllung.
Die ärmsten unter den Menschen sind die Asketen. Nach Emanzipation
streben sie, Entfremdung aber finden sie. Denn Verstand und Geist
sind dem Lebendigen nur Werkzeug, welches er nutzt, um das zu
erreichen, wonach er sich sehnt. Wer den Geist einem Herscher
gleich über die Seele stellt, verliert rasch alle Sehnsucht, die
er im Herzen trug. Am Ende wird er zum jämmerlichen Geschöpf,
das nicht mehr weiß, wozu es auf der Welt ist. Denn hört er auch
das Blut durch seine Ohren rauschen und sieht er auch den Regen
fallen, die Pflanzen sprießen, schaut er das Wachsen und gedeihen,
das Welken und Vergehen, all das sagt ihm nichts mehr. Leere umhüllt
ihn, und es ist nichts mehr, darin er gebettet wäre.
Jeder Wurm, jeder Halm weiß um sich selbst, spürt er seinen Saft
doch fließen und Elemente seinen Leib umspülen. Das Maß der Vernunft
mag uns scheiden. Das Spüren der eigenen Lebendigkeit aber eint
uns.
Alle Gelehrsamkeit strebt nach Abstraktion und einer letzten Wahrheit,
die sie im vollkommenen Objektivieren zu finden glaubt, Eine alte
Narretei. Denn was überall zu jeder Zeit für alle und jeden gleichermaßen
gültig ist, bleibt ein ödes Nichts. Dieses trübe Land kennt weder
Gut noch Böse, weder Zorn noch Barmherzigkeit. Denn was immer
sich ereignen mag: objektive Betroffenheit gibt es nicht. Ihr
aber fällt die Aufgabe zu, dem Menschen Leben einzuhauchen. Der
Asket weiß weder, was Freiheit, Liebe, noch was Haß und Rachlust
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bedeuten; der fühlende, der
spürende, der empfindsame Mensch aber wird in ihrem Namen leben
und sterben. Wichtig ist die Rede der Ratio. Dank ihrer erbauen
wir Städte, kreuzen Ozeane und reisen zu den Sternen. Stumm nur
bleibt sie, fragt man danach, warum wir das tun. Die Dichtung
allein mag Manchem Antwort geben. Hierin wohnt die Aufgabe der
Literatur, ja der Zweck aller Kunst überhaupt: bewegen, rühren,
aufrütteln, schmeicheln und erschrecken, streicheln und aufwiegeln.
Damit niemand das Träumen verlernt. Wer nicht mehr träumt, braucht
auch nicht mehr zu denken.
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Dagmar-Ruth Neu:
"Erkenne Dich selbst" stand im
Tempeleingang zu De1phi. Aus gutem Grund, denn wer sich auf die
Suche nach sich selbst begibt, wird sich je tiefer er vordringt,
in einem wirklich ziemlich verwirrenden Labyrinth wiederfinden.
( Nebenbei, die Sache mit Ariadne passiert wirklich nur in griechischen
Sagen.) Über 2000 Jahre Denkgeschichte und so einfache Sätze wie
" He Junge, wer bist Du? "( gestellt von einem Friedhofswärter)
können einen jungen Schopenhauer schon ganz schön aus der Fassung
bringen. Auch die moderne Psychologie konnte uns da noch keine
umfassende Erläuterung geben insbesondere in Bezug auf Menschen,
die nicht einmal wissen wann und wieviele sie sind.( Kein Wunder
immerhin bemüht sich die Philosophie schon ziemlich lange darum.)
Inzwischen gibt es wahrscheinlich so viele Modelle von dem Ich
und der Außenwelt, daß man sich zumindest sicher sein kann, daß
der Weltgeist ein Softwareprogramm für fraktale Geometrie besitzt.
Momentan ist Esoterik, Mystik und Magie ja zum letzten Schluß
aller Weisheiten avanciert und wir entdecken wieder Gottheiten
und Urkräfte in uns, als Ansturm gegen die technisierte Welt und
der Entfremdung der Subjektivität. Das ist schön, denn letztendlich
hat das Mittelalter ja noch nicht so ganz schlüssig geklärt, wieviele
Engel auf einen Stecknadelkopf passen. {Falis also jemand Gott
trifft, bitte, bitte, fragt ihn, denn diese Frage brennt uns wirklich
unter den Fingernägeln.)
Ob wir nun Materialisten, Idealisten, Phänomänologen, (Pan)-Theisten,
Freidenker oder sonst irgendeine Art von Denken uns zugehörig
fühlen, so ist die Frage nach dem Ich immer noch eine ziemlich
haarige. Kein Wunder bei all den Dingen, die uns heute bestimmen:
Traumata, Komplexe, Umwelt, Erziehung, Standeszugehörigkeit, welcher
Glaube auch immer, Geschlecht, Alter etc. bis hin
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Zum Musikgeschmack. Falls
ich jehmals der Weisheit letzten Schluß Darüber finden werde,
schreibe ich ein Buch und werde reich. Bis dahin rufe ich Euch
ein fröhliches Erkenne Dich selbst!" zu.
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Manuel Magnus
Zühlke:
Warum: Sicherlich ist dies
eines der wichtigsten Worte in meinem Leben! Schon immer habe
ich mich fur die Beweggründe unseres Handelns interessiert, Nicht
zuletzt, weil ich denke, daß uns oftmals unsere Triebhaftigkeit
einen Strich durch unser, doch so gern vernünftig geführtes Leben
macht. Es werden Dinge getan oder gesagt, ohne daß wir in der
Lage sind, zu sagen warum. Wir werden geleitet von unserem Unterbewußtsein,
will uns die Psychologie glauben machen, doch was ist dieses seltsame
"Ding", daß uns andere Menschen hassen oder lieben;
stehlen oder geben läßt? Ist es nicht genauso Bestandteil
unseres Wesens, wie auch unser Bewußtsein es ist und wieso können
wir es so schlecht kontrollieren, ja sind ihm teilweise sogar
ausgeliefert, wenn ich dabei nur an meinen letzten Alptraum denke
wird mir ganz anders. Es ist uns etwas mit in die Wiege gelegt
worden, was wir als Neugierde bezeichnen können und dies ist sicherlich
Pate aller Dinge die wir bisher hervorgebracht haben, doch leider
ist es uns noch nicht gelungen uns selbst zu verstehen, wir haben
es uns in dieser Beziehung leichter gemacht, als in jeder anderen
Sparte des Wissens, wir begnügen uns damit, das es ein Unterbewußtsein
gibt und fertig, nehmen wir hierbei mal ein paar interessierte
Psychologen aus. Wenn wir ehrlich sind müssen wir doch zugeben,
daß wir uns äußerst selten Gedanken, über die Beweggründe unseres
Handelns machen; und das wir einfach nur eine Biomaschinerie sind
ist mir doch etwas zu wenig.
Nun stellt sich jedoch die Frage warum ich mich hier mit diesem
beschäftige. Nun, es ist ganz einfach die Künste, nehmen wir nur
die klassischen, Malerei, Musik und Literatur, leben von Bildern
im weitesten Sinne, diese Bilder vermitteln einem die Gedanken,
Gefühle, Sichtweisen, des jeweiligen Künstlers, sie ermöglichen
es
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zu zeigen wie man seine Umwelt aus seiner
subjektiven Perspektive heraus wahrnimmt und ist für mich damit
einzige Möglichkeit meine Beweggründe darzustellen und es mir
damit zu ermöglichen mich mit ihnen auseinander zu setzen. Man
könnte also sagen es ist eine Art Selbsttherapie, aber ich glaube
es ist mehr, wenn wir alle mehr von uns geben und unsere tiefsten
Gedanken nicht so sehr vor äußerem Zugriff abschirmen würden,
wenn wir alle mehr Künstler wären, wäre es einfacher einander
zu verstehen und miteinander umzugehen.
Und daher kann ich jedem nur anraten sich auch in dieser Richtung
zu betätigen, sei es fur sich allein in einem stillen Kämmerlein,
oder in dem Versuch eine Öffentlichkeit zu erreichen, wie in unserem
Falle.
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Novemberfrost
I, Akt
Ein Zimmer, karg eingerichtet. Ein Jüngling und seine Freundin.
Es ist bereits dunkel, Kerzen brennen. Er sitzt auf der Fensterbank,
während sie sich die Haare kämmt und leise " Es ist ein Ros'
entsprungen" vor sich hinsummt. Beide sind ausgemergelt,
sehen elend aus. Ihre Arme sind über den Pulsadern vernarbt; seine
Arme sind voller Einstichlöcher. Das einzige große Möbelstück
ist eine Matratze, die auf dem Boden liegt. Wahllos liegen Bücher
verstreut.
Er
Im Winter hatte die Stadt lange geschlafen, doch jetzt war der
Frühling erwacht. Das konnte man nicht nur spüren; sie hatten
auch schon darüber geschrieben.
Sie, lachend
Du Träumer, es ist doch November
summt w eiter und setzt sich auf die Matratze
Er
Du bist so weit mein Land und wenn die Nacht mit ihren dunklen
Schwingen dich umfängt, bist du viel schöner, als am grauen Tage
mir, mein Land.
Sie läßt ihren Kamm fallen. Tonlos: Wir müssen nach draußen.
summt und kämmt weiter
Er springt von der Fensterbank, gebärdet sich hysterisch heiter
Oh, ja. Denn wir müssen ja essen und trinken und
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rauchen, denn wir leben -
ja, wir leben. ( wird immer hysterischer ) Und die Sonne scheint,
wir brauchen die Sonne zum Leben
Sie
Die Sonne scheint nicht, es ist November. Wir müssen
nach draußen.
summt weiter.
Er geht zum Fenster, schaut in den Sternenhimmel.
Tonlos:
Als ich klein war, bin ich einmal draußen gewesen. Da war Sommer.
Ich stand am Meer und hatte Sand unter meinen Füßen. Da war Wind
und das Rauschen des Meeres - und Muscheln, in allen Regenbogenfarben.
Sie, ihn anschreiend
Und SIE waren da. SIE waren da. Kannst du dich nicht
erinnern?
Fängt an zu weinen, rollt sich über ihren Knien ein.
Schreit:
Das haben SIE getan!
weint weiter
Er geht zuu ihr rüber und nimmt sie in den Arm
Als wir nächtens auf dem Dach gesessen, während die Stadt geschlafen
- hast Du da nicht gespürt, wie stark wir sein können? Wir waren
die Könige der Stadt - fair eine %eile. Ich habe dein Blut gespürt
in meinen Adern; Ich habe mit deinen Augen gesehen.
Sie schaut haßerfüllt hoch
Du kannst niemals durch meine Augen sehen. Du kannst überhaupt
nichts sehen, sich dir doch deine Arme an. Wir sind blind und
die Welt hat uns vergessen. Zu recht. weint weit. er
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Er krault ihr das Haar
Du bist immer so grausam, wenn dir schwarz ist, Du bist grausam.
Warum kannst du denn nicht glauben? Glauben an Zukunft? Ich werde
niemals gehen,
Sie, schreiend
Wir sterben, hörst Du, wir sterben! SIE sind hier, selbst in unseren
Gecken sind SIE. Wir werden sterben. weint weiter
Er
Aber SIE sind nicht hier, wir sind hier zuhause. Während er sie
weiter in den Haaren krault, pille er umständlich mit einer Hand
eine Opiumpfeife
Hier, laß dir helfen, Trinke vergessen und süße Träume, Hehl ihren
Kopf hoch und steckt ihr die Pfeife in den Mund. sie nimmt einige
Züge und kippt nach hinten, auf die Ma~aze. Er geht mit der noch
brennenden Pfeife zum Fenster und se t hinaus.
l.Akt, zweiter Aufzug, Traumsequenz
Die Bühne dreht sich. In der Mitte der Bühne befindet sich zur
optischen Teilung ein Wald, der aber durchaus zu durchqueren ist.
Surrealistisch, traumhafte Ausstattung, Die Protagonisten beenden
sich an entgegengesetzten Seiten. Sie sind bunt gekleidet. Sphärische,
aber zugleich bedrohliche Musik erklingt. Beide wandern an den
Rändern ihrer Bühnenhälfte endlang und tasten in der herum, als
ob sie etwas suchten. Dabei schauen sie in die jeweils dem anderen
abgelte Richtung.
Er
Hörst Du mich? Rede doch, hörst Du mich?
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Ja. Aber wo bist du?
Sie beginnen aufgeregt sich an den Bühnenrändern hin und her zu
bewegen, ohne jedoch jemals in die Richtung des anderen zu blicken.
Sie beginnen laut durcheinander zu rufen, immer wieder die Sätze:
"Wo bist du?"," Hörst du mich?"
Da sie gegenseitig ihre Stimmen vernehmen, beginnen sie sich auf
den Wald zu zubewegen und dort zu suchen, ohne sich jemals zu
sehen oder zu begegnen; dabei rufen sie w eiter. Das geht solange,
bis sie jeweils auf der Seite des anderen stehen. Dort fangen
sie an zu weinen.
1.Akt, dritter Aufzug
Zurück im Zimmer, beide liegen auf der Matraze. Er erwacht grade,
sehr aufgeregt, atmet schnell und schaut sich nach ihr um.
Er
Nur geträumt,'s nur geträumt. Ein Traum ist manch eine ganze Nacht
und manch auch ein ganzes Leben. Nur ich, ich bin der Traum aus
dem ich nicht erwachen kann. Das große einsame ich, in einer Welt,
die nie mit mir gesprochen hat. Sie hat sogar gelacht und uns
hierher verbannt. Könnte sie mit. meinen Augen sehen, mit meinen
Ohren hören, mit meiner Seele fühlen; sie könnte es nicht fassen
immer auf s Neue zu erwachen - - hier. Und müßte weinen, wie ein
kleines Kind. Jetzt ist sie uns nur noch ein Schatten, doch diese
Schatten immer bei uns. In jedem Wort, daß wir sprechen; in den
Gedanken; - selbst in jeden Atemzug. Mit ihren Klauen zieht sie
mein Blut zu Boden in die taube Tiefe, die unser Grab wird,
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Er dreht sich nach ihr um.
Manchmal bist du so schön, wie Tod. Ja
Sie. Dann bist Frau, so Lilie und so ion
neuen Lebens-nur in den Reichen deines Morgens.
Wir waren einmal anders, glaube ich. Das ist so lang
daß ich mich kaum erinnern kann. Nur eine Sehnsucht
blieb zurück und sie schreit manchmal, Laut schreit sie,
allzu laut.
Nach draußen?
Er senkt betrübt den Kopf.
Ich glaube, wir waren stolz, ja stolz und schön. Bis man
uns lehrte zu denken. Aber schlaf du nur.
Schlaf du nur und träume - UNS.
Und wenn wir nur in Träumen leben, ist das doch besser,
als nie gelebt zu haben.
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Styx
Growing up the green and lonesome valley
the deepest colour was the sun turned red
while black souls always wanted to the river
Ulysses never want to cry so scared.
A little day had searched for oblivishm,
no eye had fixed him up among the graves.
A strander of the sun, he asked for loving
so we made deepest loving till he died
He was never told the devil knows no mercy
his beauty it was given to the tide
The cliffs the give an always crowling wisper
so tears are simply black the surface white
Blood was poisend by the sword of wisdom
dear stand the pain that cut will never heal
The wind deloudring soft, a rose of dreadful
water it will turn the fortune's wheel
Oh winter you have slaughtered all the weakness
and I will staying blind, my lies to steal.
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Hades
Die Nacht atmete schwer, als
er durch den Torbogen stolperte. Schwermütig gestimmt, fand sie
keinen Schlaf und streunte unruhig durch die Straßen. Heute mochte
sie keinen Frieden spenden. Rastlos war sie auf der Suche. Und
zog hinter sich her einen trüben Schlei feinster, kaum sichtbarer
Tröpfchen, der bald die ganze Stadt umschlang. Ein zäher, feuchter
Film legte sich auf alles, dessen er habhaft werden konnte, durchdrang
es und lastete schwer auf eines jeden Brust. So ächzte und seufzte
schließlich Jedes Haus, blinzelten, müde Fenster verwundert in
die Dunkelheit und zuckten Straßenlaternen nervös, so daß ihr
elektrisches Licht flackerte.
Pauls Herz pocherte aufgeregt. Außer sich, war er in die diesige
Düsternis davongelaufen, keinem bestimmten Ziel entgegen. Er wußte
nicht, wie lange er schon unterwegs war, doch es durfte bald schon
eine gute Stunde her sein, da er seine Freunde verlassen hatte.
Freunde? Paul lachte bitter. Was für Freunde! Da war keine Wärme
mehr, keine Vertrautheit, nur ein ekliges Gefühl des Gewöhntseins,
entsprungen der Erinnerung an verlorengegangene Zuneigung. Kalte
Spiele, Abschätzen der Stärken des Gegners. Jetzt fochten sie
miteinander um die Trophäe des geistreichsten Unterhalters; alle
aber hatten sie aufgegeben, es kämpfte niemand mehr.
War es denn wirklich so lange her? Das Schmieden gemeinsamer Pläne,
das kecke Erspinnen einer Zukunft, die ihnen eine Herausforderung
war? Paul hielt inne und rang nach Atem. Die wässrige Luft war
eine bleierne Gallerte, die ihm in der Brust stach. Wie konnte
das nur geschehen?, fragte er sich verzweifelt, immer noch davon
entfernt, die Fassung wiederzufinden. Während ihm jeder einzelne
seiner Freunde sein Leid über die anderen geklagt hatte, über
die Intrigen, die
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Machtränkereien, waren sie alle gemeinsam
an diesem Abend über ihn hergefallen. Da er sie zur Rede stelleb
und ihnen vor Augen führen wollte, wie tief sie sich verstrickt
hatten in ein Spiel aus Verletzung und Sühne. Er mußte sie an
einem wunden Punkt getroffen haben. Rasch ward er zur allgemeinen
Zielscheibe geworden, und gemeinsam übertrumpften sie sich darin,
all ihren Groll gegen ihn zu schleudern. Doch nicht die giftigen
Tiraden waren es gewesen, vor denen er geflohen war. Resignation
hatte sich in sein Herz geschlichen. Dies ätzende Wasser benetzte
sein Gemüt, und noch immer vermochte er es nicht, es abzustreifen.
Paul fürchtete sich mit einemmal davor, den Weg seiner Freunde
einzuschlagen. Er spürte, wie ihre Gedanken sich in ihn eingruben,
Parasiten gleich, die sich von Hoffnung nähren und schwarzen Zynismus
ausscheiden. Aber war es wirklich so lächerlich, daß er immer
noch seinen Träumen nachhing? Machte er sich tatsächlich zum Narren,
wenn er daran glaubte, einen eigenen Weg einschlagen zu können?
Vielleicht hatten die anderen Recht. Plötzlich wußte er ihren
Reden nicht mehr entgegenzuhalten. Womöglich gab es keine Freiheit,
wie sie behaupteten, die nicht die des Anderen beeinträchtigte;
und wäre es deshalb von nöten, sich einzufügen, maßregeln zu lassen
und die zugewiesene Maske zu tragen. "Läßt man sich erstmal
darauf ein", hatte Harald ihm entgegengehalten, "stellt
man fest, daß es so schlecht gar nicht ist. Schließlich sichert
uns das ein ruhiges, angenehmes Leben." Paul hatte geglaubt,
Harald gut zu kennen; besser, als alle anderen. Irrte er? Wenn
Harald sagte, er sei mit seinem Leben zufrieden, meinte Paul,
es aus ihm schreien zu hören: hilf mir!
Paul taumelte. Seine Erregung wich einem schwindligen Unbehagen.
Es war eine sonderbare Stimmung, die unvermittelt von ihm Besitz
ergriff Was geschieht nur... es wird die Erschöpfung sein, sprach
er zu sich selbst, der Lauf hierher, die schwere Luft - gewiß,
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das wird es sein. Der Niesel hatte sich
inzwischen zu einem nebelartigen Dunst verdichtet, der nicht von
unten emporstieg, sondern von oben herabrieselte. Er verschlang
das spärliche Laternenlicht und spie es als ein kränkliches Leuchten
wieder aus, das sich träg auf den klebrigen Schleier legte und
Pauls Umgebung gleich einer Flüssigkeit umwaberte. Die Umrisse
vor seinen Augen verfremdeten sich und schienen mit einemmal lebendig
geworden. Es wird die Erschöpfung sein, wiederholte Paul jetzt
etwas lauter, als müßte er sich selbst davon überzeugen. Er vergewisserte
sich vorsichtig seiner Umgebung. Sein unbestimmtes Fortlaufen
hatte ihn in diese nächtens ausgestorbene Gegend geführt, die
er nur flüchtig kannte. Ein stillgelegter, verrotteter Güterbahnhof,
an den sich ein kleines, verwittertes Industriegelände anschloß.
Heruntergekommene Fabrikgebäude umringten ihn, teils eingefallen,
teils ausgehöhlte Ruinen. Weit und breit konnte es keinen einsameren
Ort geben in der Stadt. Und doch meinte, Paul etwas zu hören.
Es kam ganz aus der Nähe. Ein schleppendes, metallisches Schaben
und Kratzen, untermalt von einem dumpfen, grollenden Ton. Es klang
ganz wie der diffuse Reigen aus abertausenden Schritten. War das
möglich? Zaghaft ging er voran, behutsam mit den Füßen nach Halt
auf dem nassen Kopfsteinpflaster suchend. Vielleicht wird in einer
der Hallen Nachtschicht gearbeitet? Aber er konnte nichts sehen,
als die wässrigen Schemen der Gebäude, die ihm der phosphoreszierende
Nachthimmel enthüllte. In keiner der Hallen schien Licht. Alles
duster, leer und ausgestorben. Doch da war es wieder! Paul wandte
sich zur Linken, umrundete eine Schutthalde und drang tiefer in
das Gelände vor. Angestrengt blinzelte er in den Dunst hinein,
dann verharrte er und horchte. Und
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plötzlich fuhr er erschrocken zusammen.
Da hatte der Schleier eine Gestalt freigegeben, die abrupt vor
ihm auftauchte und auf ihn zuschritt.
Auch Harald trieb es in dieser Nacht umher, doch aus anderem Grunde.
Vor einigen Tagen hatte er eine Fremde kennengelernt, ein junges
Mädchen, das ihm seitdem nicht mehr aus dem Sinn ging. Sie hatte
einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen, und es war in ihm
ein verschüttet geglaubtes Gefühl aufgekeimt: Verliebtheit. Nicht
aber seinetwegen hatte sie ihn angesprochen, nein, an einem seiner
Freunde war es ihr gelegen, den sie aufsuchen wollte. Halb hatte
er ihr nicht weiterhelfen können, halb nicht wollen, und so war
sie wieder verschwunden. Doch an diesem Abend hatte er sich wiedergesehen,
zwar aus der Ferne nur, doch hatten sich ihm ihre Konturen scharf
genug eingeprägt, daß er sie auch in dieser schummrigen Nacht
sofort erkannte. Den Nieselschleier wie einen tarnenden Umhang
gebrauchend, war er ihr nachgeschlichen.
Abermals strauchelte Paul, diesmal aber über die Fremde, die plötzlich
stehen geblieben war. Ohne Erklärung hatte sie ihn bei der Hand
genommen und mitten in eine gewaltige Halle geführt, aus der das
stöhnende Rauschen an seine Ohren geklungen war. Nun waren sie
stehen geblieben, vor einem gähnenden Abgrund, der sich vor ihnen
auftat; mitten im Hangar, der von einer stählernen Kuppel umwölbt
wurde, schien Götterhand, den Boden gespalten zu haben. Die Fremde
zog Paul zu sich heran und wies mit der Hand voraus. Sich, was
geschehen ist, deutete sie ihm. Zunächst meinte er, einem tosenden
Fluß gegenüberzustehen, der sich sein Bett quer durch die Halle
gerissen hatte. Und wahrhaftig, ein Fluß war es, doch welcher
Gestalt waren seine Fluten! Als er aber begriff; was er da erblickte,
schüttelte ihn kaltes Entsetzen. Unvermittelt griff er sich zur
Brust und dann zum Hals, denn etwas würgte ihn, und keuchend
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ging er in die Knie. Seinen Augen wollte
er nicht trauen Ihr Blick mußte trügen. Es konnte nicht wahr sein.
Was er sah - das war nicht denkbar, konnte und durfte nicht sein.
Er blickte hinab in die See, sah zur Fremden hinüber, die unberührt
neben ihm stand, wandte sich wieder zurück zum Fluß und konnte
die Augen nicht schließen.
Vor beiden ergoß sich eine graue Flut, die sich als endlose Spirale
in die Ewigkeit ergoß. Sie spendete weder Leben noch Naß, denn
nicht Wasser schäumte sich zu Wellen auf, sondern eine endlose
Kette unzähliger Menschen, die einander vorantrieben. Männer,
Frauen, Kinder und Greise, die sich rastlos vor einander herstießen.
Haut und die erbärmlichen Lumpen, die ihnen am Leibe hingen, waren
vom gleichen kränklichen, fahlen Grau. Nur ihre Augen funkelten
boshaft. Das Stieben und Rauschen der Wogen waren ihre Worte.
Was die Menschen taten, war nicht weniger, als sich gegenseitig
ohne Unterlaß zu beschimpfen, zu beleidigen und zu erniedrigen.
Jeder war des anderen Hölle.
"Wer...", hob Paul an, "wer sind diese Leute? Was
tun sie da nur?"
"Es ist der Hades, den Du siehst." Antwortete die Fremde
in teilnahmslosen, fast kalten Ton. Dabei sah sie Paul nicht an.
"Die wirklichste und niedrigste aller Höllen."
"Also sind es die Toten, die ich sehe?" fragte Paul
ungläubig.
"In gewisser Weise, ja." Erwiderte die Fremde und stieg
in die Böschung hinab. "Komm, sich her", forderte sie
Paul auf, ihr zu folgen. "Hier enden viele, Zu viele. Und
täglich werden es mehr. Bald sprengt der Fluß sein Bett und wird
das Land überfluten."
"Wofür werden sie bestraft?" erkundigte sich Paul.
"Bestraft?" Die Fremde sah in verwundert an.
"Wenn die Ewigkeit Gerechtigkeit kennt, wird sie sich keiner
Bestrafung bedienen. Was hat Recht mit Strafe
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zu tun?Einst schufen Götter den Hades,
und sie vebannten dorthin sowohl jene, die Böses getan, als aber
auch die, deren größtes Verbrechen darin bestand, nichts Gutes
vollbracht zu haben."
Plötzlich fuhr Paul sie wütend an. "Warum?", fauchte
er, "Warum laßt ihr sie leiden? Mit welchem Recht tut ihr
ihnen das an?" Nun hatte er begriffen, wer die Fremde war.
"Wir?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, sie selbst
sind es. Das Zeitalter der Götter ist vorbei. Hier braucht es
keinen Satan, keine dämonischen Wächter und keinen Höllenhund,
es gibt keine Mauern und keine Tore; die Menschen sind sich selbst
die besten Teufel."
Langsam zog eine Gruppe an ihnen vorüber, die sich gegenseitig
giftig ankeifte, Daß er ein Versager sei, mußte er sich vorhalten
lassen, eine überflüssige Kreatur, die so austauschbar wäre wie
ein Wurm oder eine mickrige Schraube. Wertlos sei er, meinte einer,
wie ein Sandkorn am Strand. Paul versuchte dazwischen zugehen
und ihrer Rede ein Ende zu machen. Doch obwohl er ihre Körper
spürte, sahen sie durch ihn hindurch, als sei er nicht da. Niemand
beachtete seine Worte.
"Sie sind so real wie du selbst", erklärte die Fremde,
"keine bloße Erscheinung. Doch genau, wie du zu ihnen hinabsteigen,
sie anfassen und ansprechen kannst, bleibst du für sie unsichtbar.
Genau wie der Fluß, die Böschung und das Ufer. Weil du das Ufer
siehst, wirst du es erklimmen können. Und auch ihre Augen sehen
das Gleiche wie die deinen. Nur glauben sie ihnen nicht. Was allein
sie noch empfinden, sind Leid und Schmerz, ihr einziger Wunsch
ist es, zu verletzen. Ganz erfüllt sind ihre Seelen von Haß und
Verachtung. Kennten sie Hoffnung, ebenso leicht verließen sie
den Hades, wie du es wirst."
"Aber sie leiden!", rief Paul fast froh. "Und nur
wer liebt, kann leiden, den Leid ist die Liebe zum Verlorenen.
Und wer liebt, der lebt. Es gibt noch
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Hoffnung für sie. Warum", er riß sie
zu sich herum, "gebt. ihr ihnen nicht zurück, wonach sie
sich sehnen?"
"Weil wir es ihnen nicht genommen haben."
"Aber sie sind doch nur blind!" schrie er sie verzweifelt
an, "Schenkt ihnen ihr Augenlicht wieder, ihr habt die Macht
dazu!"
"Mächtig seid nur ihr allein. Von Menschenhand geschmiedete
Ketten können nur von Menschenhand zerrissen werden. Es liegt
allein an euch, dagegen aufzubegehren. Denn dieser Hades ist keine
Strafe der Götter. Er ist ein selbstgeschaufeltes Grab."
Benommen schwankte Paul und fiel schließlich der Fremden in die
Arme. "Dann gebt uns wenigstens Kraft", flüsterte er.
"Schenk mir etwas von deiner Zauberkraft."
Beide sahen nicht, was sich hinter ihnen zutrug. Beiden war die
Gestalt entgangen, die sich hinter einem Pfeiler verborgen und
sie argwöhnisch beobachtet hatte, und die sich jetzt, mit einer
Schaufel bewaffnet, an sie heranschlich. Eifersucht und Neid sprühten
glühend aus Haralds Auge, als er nach Brudermord sann. Kreischend
durchschnitt die schartige Schaufel die Luft, als sie auf Paul
niedersauste.
"Harald ", kam es halblaut und erschrocken aus
Pauls Munde. als er seinem Freunde gewahr wurde, der wieder und
wieder mit der Schaufel auf ihn eindrosch. Doch sie fuhr durch
ihn hindurch, als sei er selbst nur eine Erscheinung.
"Verflucht", zischte Harald aufgebracht, "Was ist
das für ein teuflisches Spiel? Warum treffe ich dich nicht? Und
weshalb sehe ich dich nicht mehr?"
Tatsächlich veränderte Harald sich, entfleuchte alle Farbe aus
ihm und zerfiel seine Kleidung in graue Lumpen. Und als Paul längst
die Halle wieder verlassen und in den Morgen davon gegangen war,
ward Harald ein neuer Tropfen geworden, der sich in den Hades
ergoß.
Mummenschanz 0 / Mai 95
/ Seite 21
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Der Bahnsteig der Untergrundbahn,
auf dessen sauberen Asphaltboden ich stand, wirkte frisch und
neu. Wie ein Bahnsteig aussehen sollte. Zwei Gleise lagen im Bahnhof,
blank glitzerten die Oberflächen im Neonlicht, eingerahmt von
den beiden Bahnsteigen, die sich gegenüber lagen. Fest und stark
und massiv ruhten die Bahnsteige auf ihren Fundamenten, die sich
gerade und glatt aus der Erde erhoben. Nur wenn man genau hinsah,
erkannte man den alten Bahnhof und die alten Bahnsteige. Viele
kleine Rundbögen, aus Ziegelsteinen zusammengesetzt, die sich
aneinander reihten, wie eine winzige, alte Brücke über einen breiten,
ruhigen Fluß.
Eine Brücke, durch deren Bögen langgestreckte, flache Flußboote
fahren. Die Bögen waren noch da, nicht nur als Schatten, niemand
hatte sie weggenommen, nicht einmal die Zeit, sie waren noch da,
und doch nur als Schatten, denn jemand hatte sie zugemauert. Zugegossen
wohl vielmehr, Spachtelmasse, Plombenfüllung, denn statt der schwarzen
Löcher, durch die die Schiffe fahren, strotzte stolzer Beton.
Man hatte versucht, ihn schwarz anzumalen, doch war es nicht gelungen,
Beton bleibt eben immer grau, und das Relief der Mauersteine verriet
den Betrug. Ich blickte zu boden, auf den Asphalt des Bahnsteigs,
und versuchte die alte Brücke zu fühlen, das Wasser, das an die
Pfähle schlägt und das sanfte Brummen der langhubigen Dieselmotoren.
Der alte Bahnsteig war noch da, niemand hatte ihn weggenommen.
Auf den alten Boden hatte man einen neuen gespritzt, und er war
ganz verschwunden.
Ihn konnte ich weder sehen nach fühlen, auch wenn ich es versuchte.
Womöglich hatten ihn tausend und nach einmal tausend Füße abgetragen,
bis er rauh und stumpf und ganz unansehnlich geworden war. Ich
schloß die Augen, und sah auch das ein oder andere Loch, und stolpernde
Mummenschanz 0 / Mai 95
/ Seite 22
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Menschen. Soweit mochte ich verstehen.
Der alte Boden war, ganz rauh und kaputt, erneuert worden. Das
ergab einen Sinn. Doch wozu der Beton in den Bögen? Wen stört
der Hohlraum, über den man geht und dabei nicht sieht? Was hatten
sie nur gegen den alten Bahnsteig, der wie eine Brücke aussieht,
durch die Flußschiffe fahren ich bezweifelte, daß es wegen des
Wassers oder der Schiffe geschehen war, den wer außer mir hörte
ihnen schon zu.
Sie hatten es wegen der Ratten getan, verstand ich mit nacktschwänziger
Schläue. Einst warteten Reisende im Stehen auf die Untergrundbahn,
während unter ihren Füßen, in den engen Rundbögen der Brücke,
die Ratten schliefen. Damit war es nun vorbei. Kein Platz mehr
für Unratläufer, Beton ist zu hart für Nagezähne. Sie verjagten
die Ratten, und spritzen ihre Schlafzimmer zu mit Beton. Ich blinzelte
im falschen Licht der Nacht und zählte die Rundungen, und versuchte
mir vorzustellen, wieviele Ratten hier früher geschlafen haben
mochten.
Für einen Augenblick verschwand der Beton, und ich beobachtete
die Ratten in ihren Löchern, wie sie da lagen, auf ihren schmutzigen
Bäuchen. Manche schliefen tief und fest und unter meinen Füßen
hörte ich gleichmäßige, lange Atemzüge und scharfes Schnarchen.
Zwei steckten vorsichtig ihre Köpfe heraus, und tranken gemeinsam,
einander zugewandt, eine Flasche Wein. Ich blickte von Loch zu
Loch, in unrasierte Gesichter, verfilzte Haare, müde Augen, verbrannte
Wangen, zerfetzte Ohren und juckende Krätze; zahnloses Grinsen,
schwarz gespickte Poren und billig tätowierte Oberarme. Zerlumpte,
farblose Anzüge, der ein oder andere zerknautschte Hut mochte
noch dazwischen sein, und vielzählige vollgestopfte Tüten mit
dem ganzen Hab und Gut der Ratten. Doch damit war es jetzt vorbei.
Der Bahnhof war gesäubert, und keine Ratte schlummerte mehr unter
den Füßen der Bahngäste oder trank eine Flasche Wein. Selbst die
Zähesten waren
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nicht resistent gegen das neue, graue Rattengift.
Die Rundbögen waren zugespritzt, nicht etwa der Wellen oder der
Schiffe, sondern der Ratten wegen.
Nackte Ratten, ohne Schwanz und ohne Nagezähne. Vielleicht fehlten
die Zähne ihnen am meisten - den wer Zähne hat, der kann zurückbeißen.
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Fragmente der Einsamkeit I
Es war wieder einmal Montag, niemand weiß mehr, der wievielte
es in seiner Schullaufbahn war, aber vielleicht ist das auch egal.
Eigentlich war es noch gar nicht richtig Montag, es war die Nacht
zwischen Sonntag und Montag und es war wieder einmal eine dieser
schlaflosen Nächte, in denen man über seine Zukunft nachdenkt.
Aber auch das ist eigentlich egal, jetzt wo sich das Leben unseres
Protagonisten selbst ausgelöscht hat.
In dieser Nacht jedenfalls saß er wieder einmal auf seinem Bett
in der kleinen Anderthalb-Zimmerwohnung, umgeben von millionen
anderer Menschen, die mit ihm in der selben Stadt wohnten. Die,
wie er, jeden Tag in einer Stadt verbrachten, die zwar groß und
voller Menschen war, aber seelenlos. Seelenlos, wie das alte zum
Abriß freigegebene Haus, auf des er blickte, wenn er durch die
trüben, seit Monaten nicht mehr geputzten Fenster schaute, die
ihn mit der Stadt verbanden.
In ein paar Stunden würde er wieder die Maske aufsetzen, die Maske
des jungen, unbekümmerten Schülers, die er während seiner Kontakte
mit Menschen zu tragen pflegte. Es war im Laufe der Jahre immer
leichter geworden diese Maske zu tragen, wenngleich er doch immer
mehr die Leere hinter ihr zu spüren vermochte. Ja, es fiel ihm
leicht Menschen zu täuschen, es war ihm sogar gelungen Beziehungen
zu einzelnen von ihnen herzustellen. Beziehungen die ihn zumindest
äußerlich in die Gesellschaft integrierten und vielleicht war
er es auch. Ja, man könnte sagen er war in die Gesellschaft eingebunden.
Doch ihm erschienen diese Beziehungen ebenso leer, wie die Menschen
zu denen er sie pflegte. Und pflegen mußte er sie und sich selbst!
Allzuoft war er nahe daran gewesen auch diese Beziehungen abzubrechen;
sie erschienen ihm so absurd.
Da umgab er sich mit Menschen, die ständig betonten,
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wie sehr sie doch um das Wohl anderer besorgt
seien und wenn er eimnal ihre Hilfe benötigte, waren sie gerade
mit so schwierigen Problemen beschäftigt, daß die Vorstellung,
daß einer dieser Menschen sich um die Probleme von anderen kümmern
wollte, in ihm nur Schrecken hervorrief.
Wie sollte, z. B. ein Mensch, der nicht einmal wußte, ob er einen
anderen liebte oder nicht, ihm bei seinen Problemen helfen?
Öfter als es ihm lieb war kamen diese Menschen zu ihm und wollten
seine Hilfe und nur allzuoft war er auch bereit gewesen ihnen
mit Rat zur Seite zu stehen. Früher einmal hatte er auch anders
geholfen, doch dazu war er heute nicht mehr bereit. Zu oft war
er dabei enttäuscht worden.
So saß er also auf seinem Bett und sicherlich wäre er in dieser
Nacht nicht allein gewesen, doch wer hätte seine Einsamkeit vertreiben
können?
Es hätte jemand sein müssen, dem er sich vollkommen hätte anvertrauen
können, in dessen Arm er den Rest der Nacht liegen und all seine
Einsamkeit hätte herausweinen müssen.
Er stand auf und zog sich an, denn es fröstelte ihn, als ihm seine
Einsamkeit mit einem Male voll bewußt wurde. Sein Blick schweifte
suchend durch das Zimmer, aber er fand nichts, an das er sich
hätte klammern können. So glitt sein Blick zu den Fenstern und
hinaus in die Nacht. Dunkel und verlassen stand das alte Haus
auf der anderen Straßenseite und schaute ihn traurig durch seine
leeren Fenster an.
Er ging zu seinem Schreibtisch und zog ein weißes Stück Papier
aus einer der Schubladen, nahm einen Stift in die Hand und begann
einen Brief zu schreiben. Er hatte noch keine Zeile zu Papier
gebracht, da bemerkte er, wie sich draußen etwas verändert hatte.
Er drehte sich zum Fenster und sah erneut hinaus. Im alten Haus
gegenüber war auf einmal Licht, ein warmes freundliches Licht,
wie
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er es lange nicht mehr gesehen hatte, einmal
vieleicht als
er zu Weihnachten bei seinen Großeltern gewesen war Wie lange
mochte das jetzt her sein? Zehn, zwölf Jahre? Er stand damals
vor dem, von seinem Großvater extra für ihn geschmückten Baum
und konnte all die Pracht und Wärme, die dieser Baum ausstrahlte
kaum in sich aufnehmen. Es war ein schönes Fest gewesen damals.
Seine Mutter war noch dabei gewesen und er hatte Geschenke bekommen,
aber das schönste war die Familie, die damals noch bestand. Er
konnte von Einem zum Anderen gehen und sie alle in den Arm nehmen
oder wurde von ihnen in den Arm genommen.
Heute war es anders. Seine Familie bestand schon seit langem nicht
mehr. Er war vor acht Jahren mit seinem Vater in diese große,
tote Stadt gezogen, nachdem sich seine Eltern, aus für ihn damals
unverständlichen Gründen getrennt hatten; mittlerweile hatte er
eingesehen, daß es für seine Eltern das Beste gewesen war sich
zu trennen. Und seitdem er mit seinem Vater in dieser Stadt wohnte
gab es diese Familienfeiern nicht mehr. Was zum größten Teil daran
lag, daß es auch die Familie nicht mehr gab. Seine Mutter hatte
einen anderen Mann geheiratet und wohnte jetzt mit ihm einige
hundert Kilometer entfernt. Seine kleineren Geschwister waren
bei ihrer Mutter geblieben, so daß er auch zu ihnen keinen Kontakt
mehr hatte, geschweige denn eine Beziehung.
Vor zwei Jahren hatte er sich auch noch mit seinem Vater entzweit
und wohnte seitdem allein in seiner kleinen Wohnung.
Er stand auf, griff nach seiner Jacke und verließ seine Wohnung.
Seine Neugier war zu groß, er mußte einfach wissen, was für ein.
Licht es war, daß all diese Erinnerungen in ihm wachrief.
Er machte kein Licht im Hausflur. Es mußte niemand wissen, daß
er morgens um dreiviertel vier noch Spaziergänge machte. Das hätte
nur die Neugier seiner
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Nachbarn geweckt und sie hätten ihn wieder
mit Fragen gequält, wie sie es damals getan hatten, als er ein
paar Tage seineWohnung nicht verlassen hatte. Eine Frau hatte
bei ihm geklingelt und gefragt, ob mit ihm auch alles in Ordnung
sei. Sie schaute sich dabei ständig in seiner Wohnung um, als
wolle sie sehen, ob bei ihm auch alles recht ordentlich sei, um,
im Falle es sei nicht, etwas zu haben womit sie ihn hätte tadeln
können. Er knallte, ohne Antwort zu geben, die Tür vor ihr zu.
Seitdem hatte sie ihn in Ruhe gelassen und auch nur noch selten
gegrüßt, wenn sie sich zufällig im Hausflur trafen.
Kalt schlug ihm die klare Luft der Januarnacht ins Gesicht, als
er die Haustür öffnete. Einsam standen die Straßenlaternen an
ihrem Platz und bewarfen die Szenerie mit ihrem kalte Licht. Er
war mittlerweile sicher, daß es eine Kerze oder etwas Ähnliches
sein mußte; nur eine offene Flamme hatte so ein warmes Licht.
Er öffnete die Tür zu dem alten Abrißhaus. Sie war nur angelehnt,
niemand verschließt ein Haus, welches in wenigen Tagen nicht mehr
sein wird. Die Treppe war noch in einem guten Zustand, wie überhaupt
der gesamte Hausflur, der sich von dem seines Hauses nur dadurch
unterschied, daß die Lichtschalter nicht leuchteten, wie sie es
in seinem taten, wenn kein Licht brannte.
Er ging dir Treppe hinauf in den ersten Stock. Links oder rechts?
Er wußte es nicht mehr. Die linke Tür lag näher, also öffnete
er diese zuerst. Ihm war nicht ganz wohl dabei, aber jetzt war
er soweit gekommen, jetzt wollte er auch wissen...
Wissen? Was eigentlich? Was ging es ihn an, wenn in einem alten,
zum Abriß freigegebenem Haus auf einmal Licht brannte? Hatte er
nicht genug mit sich selbst zu tun, als das er sich jetzt auch
noch damit beschäftigen mußte?
Er öffnete langsam die Tür und schaute durch den Spalt, der sich
vor ihm auftat. Es war dunkel. Er trat in die vor ihm liegende
Wohnung. An der ersten Tür blieb er kurz
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stehen, war da nicht ein Lichtschein, der
unter der Tür seinen Weg fand? Vorsichtig öffnete er die Tür und
wirklich, daß Licht mußte aus diesem Raum gekommensein.
Mitten in dem großen, fast die ganze Fensterfront einnehmenden
Zimmer stand ein wundervoll geschmückter Tannenbaum und seine,
über den ganzen Baum verteilten, Kerzen straften dieses warme,
herzliche Licht aus.
Er setzte sich auf und schaute erneut aus dem Fenster, gegenüber
sah er das alte Abrißhaus, welches ihn mit seinen dunklen, leeren
Fenstern traurig ansah. Sein Blick wanderte wieder auf den Bogen
Papier, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Zwei Worte standen
mit zittriger Hand darauf geschrieben: "Lieber Großvater!".
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Ein Vieleicht beherrscht den
Tag,
ein Tag wird zur Ewigkeit,
Ein Vieleicht zur Qual.
Wann wird enden, was so leicht begann? Ein Ende in dem es kein
Vielleicht mehr gibt und doch sucht man wieder einen Anfang, in
der Hoffnung dem Etwaigen zu entgehen und das Sichere zu finden.
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Ich bin unterwegs und brauche
Zeit, noch mehr Zeit, um anzukommen.
Es ist ein weiter Weg voller Gefahren und Hindernisse, denen man
begegnen muß, ausweichen, stoppen, zurück, ein anderer Weg, Vorsicht,
bleib stehen, sieh dich um! Du mußt aufmerksam sein! Bleib nicht
zurück! Geh weiter! Immer weiter...nein hier , das gefällt mir,
hier ist es schön...
Ein Moment des Innehaltens, doch dan geht es weiter...unterwegs...keine
Zeit; schwarzer Nebel verfolgt mich, umkreist mich...schneller,
immer schneller unterwegs...
Noch so viel Zeit bis zur Ankunft...doch jetzt...
Ich verlangsame die Zeit, komme schneller voran. Nun habe ich
Zeit, mich auszuruhen, ich denke an die Zukunft, das Ziehl,
voller Erwartung...
...Langeweile...
...Ungeduld!
Niemand der mir helfen kann.
Alle warten, wie ich, verschlossen...aber...
Die Zeit ist langsammer, so bin ich schneller...unterwegs, ohne
Mühe, sitzend, stehend, liegend komme ich an, setze mich vor den
Kamin,
die flammende Zukunft.
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"Die
letzte Seite"
Von
"Scheinwelten" handelt die Juliausgabe, von jenen die
wir suchen, jenen die wir fliehen, solchen die wir kennen und
solchen die uns gar als Wirklichkeit erscheinen.
*
Ferner
beginnt mit der Nr.1 der Mummenschanzfortsetzungsroman, der in
den Folgenden Ausgaben von verschiedenen Autoren fortgesetzt wird.
*
Es
sind die Leser herzlich dazu eingeladen Beiträge zu beidem oder
anderen Themen einzusenden, wir können jedoch nicht garantieren,
daß alle eingesanten Beiträge verwertet werden.
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