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MummenschanZ

Literaturfanzine für das 21. Jahrhundert
Ausgabe 0/Mai 95

VISIONEN

Last updated:
20.05.00

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Liebe Leser!
Da es sich hierbei um die erste Ausgabe unseres Fanziens Handelt zuerst einmal ein freundliches "Hallo". Du hast es also über Dich gebracht und dieses Machwerk aufgeschlagen, vielleicht in der U-Bahn, in der Uni zwischen zwei Veranstaltungen oder gemütlich Zuhause, wie auch immer, Du bist interessiert an Literatur. Aber bevor Du Dich auf unsere Texte stürzt vielleicht noch ein paar einleitende Worte.
Wir, zur Zeit sind da vier sind eine Gruppe von jungen Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen entschlossen haben, ihr Talent oder auch nur ihre Egozentrik einem breiteren Publikum vorzustellen. Da es heute jedoch nicht einfach ist, jemanden zu finden, der einem dabei hilft (Verlage, etc.), helfen wir uns jetzt selbst, indem wir dieses Fanzine veröffentlichen. Wir wollen damit nicht nur uns, sondern auch anderen die Möglichkeit eröffnen ihre Texte vorzustellen, aber dazu später mehr.
Blieben noch zwei Dinge: Warum ist das Fanzine so farbig? Und unser Thema: "Visionen".
Nun das mit der Farbe ist schnell erklärt. Jeder von uns
Vieren hat seine eigene Seitenfarbe, zum Einen, um das Fanzine etwas aufzulockern und zum Anderen, um auf einen Blick erkennen zu können, wer an der jeweiligen Ausgabe mitgearbeitet hat. Die Farben sind folgendermaßen zugeordnet:
Grün: Matthias Seiffert Rot: Dagmar-Ruth Neu Violett: Manuel Zühlke
Weiß bleibt Gastschreibern und Allgemeinem vorbehalten. Nun noch zum Thema, hm, naja, wir dachten uns für die erste Ausgabe sei es recht passend und außerdem... nein, lies lieber selbst, bevor ich Dir das Interesse mit diesem Editional gänzlich raube.

MfG
Manuel Zühlke

Mummenschanz 0 / Mai95 / Seite 1

 

Inhalt

Editorial..... l
Ich träume, also bin ich..... 3
Dagmar-Ruth Neu..... 5
Warum?..... 7
Novemberfrost..... 9
Styx..... 14
Hades..... 15
Rattengift..... 22
Fragmente der Einsamkeit I.... 25
Morgen, ein Morgen?..... 30
Flammende Zukunft..... 31
"Die Letzte Seite"..... 32

 

 

 

 

 

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 2

 

ICH TRÄUME, ALSO BIN ICH
EIN MANIFEST

Was ist des Menschen Feder? Was treibt ihn voran, bewegt und nährt ihn? Eine seltsame Kraft ist es. Wer aus ihr schöpft, nennt sie bald Bestimmung, Berufung, fühlt er doch Verlangen und Leidenschaft. Da gärt und schwelt es in ihm. Keine Ruhe soll er mehr finden, denn alles in ihm drängt nach Erfüllung.
Die ärmsten unter den Menschen sind die Asketen. Nach Emanzipation streben sie, Entfremdung aber finden sie. Denn Verstand und Geist sind dem Lebendigen nur Werkzeug, welches er nutzt, um das zu erreichen, wonach er sich sehnt. Wer den Geist einem Herscher gleich über die Seele stellt, verliert rasch alle Sehnsucht, die er im Herzen trug. Am Ende wird er zum jämmerlichen Geschöpf, das nicht mehr weiß, wozu es auf der Welt ist. Denn hört er auch das Blut durch seine Ohren rauschen und sieht er auch den Regen fallen, die Pflanzen sprießen, schaut er das Wachsen und gedeihen, das Welken und Vergehen, all das sagt ihm nichts mehr. Leere umhüllt ihn, und es ist nichts mehr, darin er gebettet wäre.
Jeder Wurm, jeder Halm weiß um sich selbst, spürt er seinen Saft doch fließen und Elemente seinen Leib umspülen. Das Maß der Vernunft mag uns scheiden. Das Spüren der eigenen Lebendigkeit aber eint uns.
Alle Gelehrsamkeit strebt nach Abstraktion und einer letzten Wahrheit, die sie im vollkommenen Objektivieren zu finden glaubt, Eine alte Narretei. Denn was überall zu jeder Zeit für alle und jeden gleichermaßen gültig ist, bleibt ein ödes Nichts. Dieses trübe Land kennt weder Gut noch Böse, weder Zorn noch Barmherzigkeit. Denn was immer sich ereignen mag: objektive Betroffenheit gibt es nicht. Ihr aber fällt die Aufgabe zu, dem Menschen Leben einzuhauchen. Der Asket weiß weder, was Freiheit, Liebe, noch was Haß und Rachlust

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 3

 

bedeuten; der fühlende, der spürende, der empfindsame Mensch aber wird in ihrem Namen leben und sterben. Wichtig ist die Rede der Ratio. Dank ihrer erbauen wir Städte, kreuzen Ozeane und reisen zu den Sternen. Stumm nur bleibt sie, fragt man danach, warum wir das tun. Die Dichtung allein mag Manchem Antwort geben. Hierin wohnt die Aufgabe der Literatur, ja der Zweck aller Kunst überhaupt: bewegen, rühren, aufrütteln, schmeicheln und erschrecken, streicheln und aufwiegeln. Damit niemand das Träumen verlernt. Wer nicht mehr träumt, braucht auch nicht mehr zu denken.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 4

 

Dagmar-Ruth Neu:

"Erkenne Dich selbst" stand im Tempeleingang zu De1phi. Aus gutem Grund, denn wer sich auf die Suche nach sich selbst begibt, wird sich je tiefer er vordringt, in einem wirklich ziemlich verwirrenden Labyrinth wiederfinden. ( Nebenbei, die Sache mit Ariadne passiert wirklich nur in griechischen Sagen.) Über 2000 Jahre Denkgeschichte und so einfache Sätze wie " He Junge, wer bist Du? "( gestellt von einem Friedhofswärter) können einen jungen Schopenhauer schon ganz schön aus der Fassung bringen. Auch die moderne Psychologie konnte uns da noch keine umfassende Erläuterung geben insbesondere in Bezug auf Menschen, die nicht einmal wissen wann und wieviele sie sind.( Kein Wunder immerhin bemüht sich die Philosophie schon ziemlich lange darum.) Inzwischen gibt es wahrscheinlich so viele Modelle von dem Ich und der Außenwelt, daß man sich zumindest sicher sein kann, daß der Weltgeist ein Softwareprogramm für fraktale Geometrie besitzt. Momentan ist Esoterik, Mystik und Magie ja zum letzten Schluß aller Weisheiten avanciert und wir entdecken wieder Gottheiten und Urkräfte in uns, als Ansturm gegen die technisierte Welt und der Entfremdung der Subjektivität. Das ist schön, denn letztendlich hat das Mittelalter ja noch nicht so ganz schlüssig geklärt, wieviele Engel auf einen Stecknadelkopf passen. {Falis also jemand Gott trifft, bitte, bitte, fragt ihn, denn diese Frage brennt uns wirklich unter den Fingernägeln.)
Ob wir nun Materialisten, Idealisten, Phänomänologen, (Pan)-Theisten, Freidenker oder sonst irgendeine Art von Denken uns zugehörig fühlen, so ist die Frage nach dem Ich immer noch eine ziemlich haarige. Kein Wunder bei all den Dingen, die uns heute bestimmen: Traumata, Komplexe, Umwelt, Erziehung, Standeszugehörigkeit, welcher Glaube auch immer, Geschlecht, Alter etc. bis hin

Mummenschanz 0 / Mai 9S / Seite 5

 

Zum Musikgeschmack. Falls ich jehmals der Weisheit letzten Schluß Darüber finden werde, schreibe ich ein Buch und werde reich. Bis dahin rufe ich Euch ein fröhliches „Erkenne Dich selbst!" zu.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 6

 

Manuel Magnus Zühlke:

Warum: Sicherlich ist dies eines der wichtigsten Worte in meinem Leben! Schon immer habe ich mich fur die Beweggründe unseres Handelns interessiert, Nicht zuletzt, weil ich denke, daß uns oftmals unsere Triebhaftigkeit einen Strich durch unser, doch so gern vernünftig geführtes Leben macht. Es werden Dinge getan oder gesagt, ohne daß wir in der Lage sind, zu sagen warum. Wir werden geleitet von unserem Unterbewußtsein, will uns die Psychologie glauben machen, doch was ist dieses seltsame "Ding", daß uns andere Menschen hassen oder lieben; stehlen oder geben läßt‘? Ist es nicht genauso Bestandteil unseres Wesens, wie auch unser Bewußtsein es ist und wieso können wir es so schlecht kontrollieren, ja sind ihm teilweise sogar ausgeliefert, wenn ich dabei nur an meinen letzten Alptraum denke wird mir ganz anders. Es ist uns etwas mit in die Wiege gelegt worden, was wir als Neugierde bezeichnen können und dies ist sicherlich Pate aller Dinge die wir bisher hervorgebracht haben, doch leider ist es uns noch nicht gelungen uns selbst zu verstehen, wir haben es uns in dieser Beziehung leichter gemacht, als in jeder anderen Sparte des Wissens, wir begnügen uns damit, das es ein Unterbewußtsein gibt und fertig, nehmen wir hierbei mal ein paar interessierte Psychologen aus. Wenn wir ehrlich sind müssen wir doch zugeben, daß wir uns äußerst selten Gedanken, über die Beweggründe unseres Handelns machen; und das wir einfach nur eine Biomaschinerie sind ist mir doch etwas zu wenig.
Nun stellt sich jedoch die Frage warum ich mich hier mit diesem beschäftige. Nun, es ist ganz einfach die Künste, nehmen wir nur die klassischen, Malerei, Musik und Literatur, leben von Bildern im weitesten Sinne, diese Bilder vermitteln einem die Gedanken, Gefühle, Sichtweisen, des jeweiligen Künstlers, sie ermöglichen es

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 I Seite 7

 

zu zeigen wie man seine Umwelt aus seiner subjektiven Perspektive heraus wahrnimmt und ist für mich damit einzige Möglichkeit meine Beweggründe darzustellen und es mir damit zu ermöglichen mich mit ihnen auseinander zu setzen. Man könnte also sagen es ist eine Art Selbsttherapie, aber ich glaube es ist mehr, wenn wir alle mehr von uns geben und unsere tiefsten Gedanken nicht so sehr vor äußerem Zugriff abschirmen würden, wenn wir alle mehr Künstler wären, wäre es einfacher einander zu verstehen und miteinander umzugehen.
Und daher kann ich jedem nur anraten sich auch in dieser Richtung zu betätigen, sei es fur sich allein in einem stillen Kämmerlein, oder in dem Versuch eine Öffentlichkeit zu erreichen, wie in unserem Falle.

 

 

 

 

 

 

 


Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 8

 

Novemberfrost

I, Akt

Ein Zimmer, karg eingerichtet. Ein Jüngling und seine Freundin. Es ist bereits dunkel, Kerzen brennen. Er sitzt auf der Fensterbank, während sie sich die Haare kämmt und leise " Es ist ein Ros' entsprungen" vor sich hinsummt. Beide sind ausgemergelt, sehen elend aus. Ihre Arme sind über den Pulsadern vernarbt; seine Arme sind voller Einstichlöcher. Das einzige große Möbelstück ist eine Matratze, die auf dem Boden liegt. Wahllos liegen Bücher verstreut.

Er
Im Winter hatte die Stadt lange geschlafen, doch jetzt war der Frühling erwacht. Das konnte man nicht nur spüren; sie hatten auch schon darüber geschrieben.

Sie, lachend
Du Träumer, es ist doch November
summt w eiter und setzt sich auf die Matratze

Er
Du bist so weit mein Land und wenn die Nacht mit ihren dunklen Schwingen dich umfängt, bist du viel schöner, als am grauen Tage mir, mein Land.

Sie läßt ihren Kamm fallen. Tonlos: Wir müssen nach draußen.
summt und kämmt weiter

Er springt von der Fensterbank, gebärdet sich hysterisch heiter
Oh, ja. Denn wir müssen ja essen und trinken und

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 9

 

rauchen, denn wir leben - ja, wir leben. ( wird immer hysterischer ) Und die Sonne scheint, wir brauchen die Sonne zum Leben

Sie
Die Sonne scheint nicht, es ist November. Wir müssen
nach draußen.
summt weiter.

Er geht zum Fenster, schaut in den Sternenhimmel.
Tonlos:
Als ich klein war, bin ich einmal draußen gewesen. Da war Sommer. Ich stand am Meer und hatte Sand unter meinen Füßen. Da war Wind und das Rauschen des Meeres - und Muscheln, in allen Regenbogenfarben.

Sie, ihn anschreiend
Und SIE waren da. SIE waren da. Kannst du dich nicht
erinnern‘?
Fängt an zu weinen, rollt sich über ihren Knien ein.
Schreit:
Das haben SIE getan!
weint weiter

Er geht zuu ihr rüber und nimmt sie in den Arm
Als wir nächtens auf dem Dach gesessen, während die Stadt geschlafen - hast Du da nicht gespürt, wie stark wir sein können? Wir waren die Könige der Stadt - fair eine %eile. Ich habe dein Blut gespürt in meinen Adern; Ich habe mit deinen Augen gesehen.

Sie schaut haßerfüllt hoch
Du kannst niemals durch meine Augen sehen. Du kannst überhaupt nichts sehen, sich dir doch deine Arme an. Wir sind blind und die Welt hat uns vergessen. Zu recht. weint weit. er

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 10

 

Er krault ihr das Haar
Du bist immer so grausam, wenn dir schwarz ist, Du bist grausam. Warum kannst du denn nicht glauben? Glauben an Zukunft? Ich werde niemals gehen,

Sie, schreiend
Wir sterben, hörst Du, wir sterben! SIE sind hier, selbst in unseren Gecken sind SIE. Wir werden sterben. weint weiter

Er
Aber SIE sind nicht hier, wir sind hier zuhause. Während er sie weiter in den Haaren krault, pille er umständlich mit einer Hand eine Opiumpfeife
Hier, laß dir helfen, Trinke vergessen und süße Träume, Hehl ihren Kopf hoch und steckt ihr die Pfeife in den Mund. sie nimmt einige Züge und kippt nach hinten, auf die Ma~aze. Er geht mit der noch brennenden Pfeife zum Fenster und se t hinaus.

l.Akt, zweiter Aufzug, Traumsequenz

Die Bühne dreht sich. In der Mitte der Bühne befindet sich zur optischen Teilung ein Wald, der aber durchaus zu durchqueren ist. Surrealistisch, traumhafte Ausstattung, Die Protagonisten beenden sich an entgegengesetzten Seiten. Sie sind bunt gekleidet. Sphärische, aber zugleich bedrohliche Musik erklingt. Beide wandern an den Rändern ihrer Bühnenhälfte endlang und tasten in der herum, als ob sie etwas suchten. Dabei schauen sie in die jeweils dem anderen abgelte Richtung.

Er
Hörst Du mich? Rede doch, hörst Du mich?

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 11

 

Ja. Aber wo bist du?

Sie beginnen aufgeregt sich an den Bühnenrändern hin und her zu bewegen, ohne jedoch jemals in die Richtung des anderen zu blicken. Sie beginnen laut durcheinander zu rufen, immer wieder die Sätze: "Wo bist du?"," Hörst du mich?"

Da sie gegenseitig ihre Stimmen vernehmen, beginnen sie sich auf den Wald zu zubewegen und dort zu suchen, ohne sich jemals zu sehen oder zu begegnen; dabei rufen sie w eiter. Das geht solange, bis sie jeweils auf der Seite des anderen stehen. Dort fangen sie an zu weinen.

1.Akt, dritter Aufzug

Zurück im Zimmer, beide liegen auf der Matraze. Er erwacht grade, sehr aufgeregt, atmet schnell und schaut sich nach ihr um.

Er
Nur geträumt,'s nur geträumt. Ein Traum ist manch eine ganze Nacht und manch auch ein ganzes Leben. Nur ich, ich bin der Traum aus dem ich nicht erwachen kann. Das große einsame ich, in einer Welt, die nie mit mir gesprochen hat. Sie hat sogar gelacht und uns hierher verbannt. Könnte sie mit. meinen Augen sehen, mit meinen Ohren hören, mit meiner Seele fühlen; sie könnte es nicht fassen immer auf s Neue zu erwachen - - hier. Und müßte weinen, wie ein kleines Kind. Jetzt ist sie uns nur noch ein Schatten, doch diese Schatten immer bei uns. In jedem Wort, daß wir sprechen; in den Gedanken; - selbst in jeden Atemzug. Mit ihren Klauen zieht sie mein Blut zu Boden in die taube Tiefe, die unser Grab wird,

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 12

 

Er dreht sich nach ihr um.
Manchmal bist du so schön, wie Tod. Ja
Sie. Dann bist Frau, so Lilie und so ion
neuen Lebens-nur in den Reichen deines Morgens.
Wir waren einmal anders, glaube ich. Das ist so lang
daß ich mich kaum erinnern kann. Nur eine Sehnsucht
blieb zurück und sie schreit manchmal, Laut schreit sie,
allzu laut.
Nach draußen?
Er senkt betrübt den Kopf.
Ich glaube, wir waren stolz, ja stolz und schön. Bis man
uns lehrte zu denken. Aber schlaf du nur.
Schlaf du nur und träume - UNS.
Und wenn wir nur in Träumen leben, ist das doch besser,
als nie gelebt zu haben.

 

 

 

 

 

 

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 13

 

 

Styx

Growing up the green and lonesome valley
the deepest colour was the sun turned red
while black souls always wanted to the river
Ulysses never want to cry so scared.
A little day had searched for oblivishm,
no eye had fixed him up among the graves.

A strander of the sun, he asked for loving
so we made deepest loving till he died
He was never told the devil knows no mercy
his beauty it was given to the tide
The cliffs the give an always crowling wisper
so tears are simply black the surface white

Blood was poisend by the sword of wisdom
dear stand the pain that cut will never heal
The wind deloudring soft, a rose of dreadful
water it will turn the fortune's wheel
Oh winter you have slaughtered all the weakness
and I will staying blind, my lies to steal.

 

 

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 14

 

 

Hades

Die Nacht atmete schwer, als er durch den Torbogen stolperte. Schwermütig gestimmt, fand sie keinen Schlaf und streunte unruhig durch die Straßen. Heute mochte sie keinen Frieden spenden. Rastlos war sie auf der Suche. Und zog hinter sich her einen trüben Schlei feinster, kaum sichtbarer Tröpfchen, der bald die ganze Stadt umschlang. Ein zäher, feuchter Film legte sich auf alles, dessen er habhaft werden konnte, durchdrang es und lastete schwer auf eines jeden Brust. So ächzte und seufzte schließlich Jedes Haus, blinzelten, müde Fenster verwundert in die Dunkelheit und zuckten Straßenlaternen nervös, so daß ihr elektrisches Licht flackerte.
Pauls Herz pocherte aufgeregt. Außer sich, war er in die diesige Düsternis davongelaufen, keinem bestimmten Ziel entgegen. Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs war, doch es durfte bald schon eine gute Stunde her sein, da er seine Freunde verlassen hatte. Freunde? Paul lachte bitter. Was für Freunde! Da war keine Wärme mehr, keine Vertrautheit, nur ein ekliges Gefühl des Gewöhntseins, entsprungen der Erinnerung an verlorengegangene Zuneigung. Kalte Spiele, Abschätzen der Stärken des Gegners. Jetzt fochten sie miteinander um die Trophäe des geistreichsten Unterhalters; alle aber hatten sie aufgegeben, es kämpfte niemand mehr.
War es denn wirklich so lange her? Das Schmieden gemeinsamer Pläne, das kecke Erspinnen einer Zukunft, die ihnen eine Herausforderung war? Paul hielt inne und rang nach Atem. Die wässrige Luft war eine bleierne Gallerte, die ihm in der Brust stach. Wie konnte das nur geschehen?, fragte er sich verzweifelt, immer noch davon entfernt, die Fassung wiederzufinden. Während ihm jeder einzelne seiner Freunde sein Leid über die anderen geklagt hatte, über die Intrigen, die

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 15

 

Machtränkereien, waren sie alle gemeinsam an diesem Abend über ihn hergefallen. Da er sie zur Rede stelleb und ihnen vor Augen führen wollte, wie tief sie sich verstrickt hatten in ein Spiel aus Verletzung und Sühne. Er mußte sie an einem wunden Punkt getroffen haben. Rasch ward er zur allgemeinen Zielscheibe geworden, und gemeinsam übertrumpften sie sich darin, all ihren Groll gegen ihn zu schleudern. Doch nicht die giftigen Tiraden waren es gewesen, vor denen er geflohen war. Resignation hatte sich in sein Herz geschlichen. Dies ätzende Wasser benetzte sein Gemüt, und noch immer vermochte er es nicht, es abzustreifen. Paul fürchtete sich mit einemmal davor, den Weg seiner Freunde einzuschlagen. Er spürte, wie ihre Gedanken sich in ihn eingruben, Parasiten gleich, die sich von Hoffnung nähren und schwarzen Zynismus ausscheiden. Aber war es wirklich so lächerlich, daß er immer noch seinen Träumen nachhing? Machte er sich tatsächlich zum Narren, wenn er daran glaubte, einen eigenen Weg einschlagen zu können? Vielleicht hatten die anderen Recht. Plötzlich wußte er ihren Reden nicht mehr entgegenzuhalten. Womöglich gab es keine Freiheit, wie sie behaupteten, die nicht die des Anderen beeinträchtigte; und wäre es deshalb von nöten, sich einzufügen, maßregeln zu lassen und die zugewiesene Maske zu tragen. "Läßt man sich erstmal darauf ein", hatte Harald ihm entgegengehalten, "stellt man fest, daß es so schlecht gar nicht ist. Schließlich sichert uns das ein ruhiges, angenehmes Leben." Paul hatte geglaubt, Harald gut zu kennen; besser, als alle anderen. Irrte er? Wenn Harald sagte, er sei mit seinem Leben zufrieden, meinte Paul, es aus ihm schreien zu hören: hilf mir!
Paul taumelte. Seine Erregung wich einem schwindligen Unbehagen. Es war eine sonderbare Stimmung, die unvermittelt von ihm Besitz ergriff Was geschieht nur... es wird die Erschöpfung sein, sprach er zu sich selbst, der Lauf hierher, die schwere Luft - gewiß,

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 16

 

das wird es sein. Der Niesel hatte sich inzwischen zu einem nebelartigen Dunst verdichtet, der nicht von unten emporstieg, sondern von oben herabrieselte. Er verschlang das spärliche Laternenlicht und spie es als ein kränkliches Leuchten wieder aus, das sich träg auf den klebrigen Schleier legte und Pauls Umgebung gleich einer Flüssigkeit umwaberte. Die Umrisse vor seinen Augen verfremdeten sich und schienen mit einemmal lebendig geworden. Es wird die Erschöpfung sein, wiederholte Paul jetzt etwas lauter, als müßte er sich selbst davon überzeugen. Er vergewisserte sich vorsichtig seiner Umgebung. Sein unbestimmtes Fortlaufen hatte ihn in diese nächtens ausgestorbene Gegend geführt, die er nur flüchtig kannte. Ein stillgelegter, verrotteter Güterbahnhof, an den sich ein kleines, verwittertes Industriegelände anschloß. Heruntergekommene Fabrikgebäude umringten ihn, teils eingefallen, teils ausgehöhlte Ruinen. Weit und breit konnte es keinen einsameren Ort geben in der Stadt. Und doch meinte, Paul etwas zu hören.
Es kam ganz aus der Nähe. Ein schleppendes, metallisches Schaben und Kratzen, untermalt von einem dumpfen, grollenden Ton. Es klang ganz wie der diffuse Reigen aus abertausenden Schritten. War das möglich? Zaghaft ging er voran, behutsam mit den Füßen nach Halt auf dem nassen Kopfsteinpflaster suchend. Vielleicht wird in einer der Hallen Nachtschicht gearbeitet? Aber er konnte nichts sehen, als die wässrigen Schemen der Gebäude, die ihm der phosphoreszierende Nachthimmel enthüllte. In keiner der Hallen schien Licht. Alles duster, leer und ausgestorben. Doch da war es wieder! Paul wandte sich zur Linken, umrundete eine Schutthalde und drang tiefer in das Gelände vor. Angestrengt blinzelte er in den Dunst hinein, dann verharrte er und horchte. Und

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 17

 

plötzlich fuhr er erschrocken zusammen. Da hatte der Schleier eine Gestalt freigegeben, die abrupt vor ihm auftauchte und auf ihn zuschritt.
Auch Harald trieb es in dieser Nacht umher, doch aus anderem Grunde. Vor einigen Tagen hatte er eine Fremde kennengelernt, ein junges Mädchen, das ihm seitdem nicht mehr aus dem Sinn ging. Sie hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen, und es war in ihm ein verschüttet geglaubtes Gefühl aufgekeimt: Verliebtheit. Nicht aber seinetwegen hatte sie ihn angesprochen, nein, an einem seiner Freunde war es ihr gelegen, den sie aufsuchen wollte. Halb hatte er ihr nicht weiterhelfen können, halb nicht wollen, und so war sie wieder verschwunden. Doch an diesem Abend hatte er sich wiedergesehen, zwar aus der Ferne nur, doch hatten sich ihm ihre Konturen scharf genug eingeprägt, daß er sie auch in dieser schummrigen Nacht sofort erkannte. Den Nieselschleier wie einen tarnenden Umhang gebrauchend, war er ihr nachgeschlichen.
Abermals strauchelte Paul, diesmal aber über die Fremde, die plötzlich stehen geblieben war. Ohne Erklärung hatte sie ihn bei der Hand genommen und mitten in eine gewaltige Halle geführt, aus der das stöhnende Rauschen an seine Ohren geklungen war. Nun waren sie stehen geblieben, vor einem gähnenden Abgrund, der sich vor ihnen auftat; mitten im Hangar, der von einer stählernen Kuppel umwölbt wurde, schien Götterhand, den Boden gespalten zu haben. Die Fremde zog Paul zu sich heran und wies mit der Hand voraus. Sich, was geschehen ist, deutete sie ihm. Zunächst meinte er, einem tosenden Fluß gegenüberzustehen, der sich sein Bett quer durch die Halle gerissen hatte. Und wahrhaftig, ein Fluß war es, doch welcher Gestalt waren seine Fluten! Als er aber begriff; was er da erblickte, schüttelte ihn kaltes Entsetzen. Unvermittelt griff er sich zur Brust und dann zum Hals, denn etwas würgte ihn, und keuchend

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 18

 

ging er in die Knie. Seinen Augen wollte er nicht trauen Ihr Blick mußte trügen. Es konnte nicht wahr sein. Was er sah - das war nicht denkbar, konnte und durfte nicht sein. Er blickte hinab in die See, sah zur Fremden hinüber, die unberührt neben ihm stand, wandte sich wieder zurück zum Fluß und konnte die Augen nicht schließen.
Vor beiden ergoß sich eine graue Flut, die sich als endlose Spirale in die Ewigkeit ergoß. Sie spendete weder Leben noch Naß, denn nicht Wasser schäumte sich zu Wellen auf, sondern eine endlose Kette unzähliger Menschen, die einander vorantrieben. Männer, Frauen, Kinder und Greise, die sich rastlos vor einander herstießen. Haut und die erbärmlichen Lumpen, die ihnen am Leibe hingen, waren vom gleichen kränklichen, fahlen Grau. Nur ihre Augen funkelten boshaft. Das Stieben und Rauschen der Wogen waren ihre Worte. Was die Menschen taten, war nicht weniger, als sich gegenseitig ohne Unterlaß zu beschimpfen, zu beleidigen und zu erniedrigen. Jeder war des anderen Hölle.
"Wer...", hob Paul an, "wer sind diese Leute? Was tun sie da nur?"
"Es ist der Hades, den Du siehst." Antwortete die Fremde in teilnahmslosen, fast kalten Ton. Dabei sah sie Paul nicht an. "Die wirklichste und niedrigste aller Höllen."
"Also sind es die Toten, die ich sehe?" fragte Paul ungläubig.
"In gewisser Weise, ja." Erwiderte die Fremde und stieg in die Böschung hinab. "Komm, sich her", forderte sie Paul auf, ihr zu folgen. "Hier enden viele, Zu viele. Und täglich werden es mehr. Bald sprengt der Fluß sein Bett und wird das Land überfluten."
"Wofür werden sie bestraft?" erkundigte sich Paul.
"Bestraft?" Die Fremde sah in verwundert an.
"Wenn die Ewigkeit Gerechtigkeit kennt, wird sie sich keiner Bestrafung bedienen. Was hat Recht mit Strafe

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 19

 

zu tun?Einst schufen Götter den Hades, und sie vebannten dorthin sowohl jene, die Böses getan, als aber auch die, deren größtes Verbrechen darin bestand, nichts Gutes vollbracht zu haben."
Plötzlich fuhr Paul sie wütend an. "Warum?", fauchte er, "Warum laßt ihr sie leiden? Mit welchem Recht tut ihr ihnen das an?" Nun hatte er begriffen, wer die Fremde war.
"Wir?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, sie selbst sind es. Das Zeitalter der Götter ist vorbei. Hier braucht es keinen Satan, keine dämonischen Wächter und keinen Höllenhund, es gibt keine Mauern und keine Tore; die Menschen sind sich selbst die besten Teufel."
Langsam zog eine Gruppe an ihnen vorüber, die sich gegenseitig giftig ankeifte, Daß er ein Versager sei, mußte er sich vorhalten lassen, eine überflüssige Kreatur, die so austauschbar wäre wie ein Wurm oder eine mickrige Schraube. Wertlos sei er, meinte einer, wie ein Sandkorn am Strand. Paul versuchte dazwischen zugehen und ihrer Rede ein Ende zu machen. Doch obwohl er ihre Körper spürte, sahen sie durch ihn hindurch, als sei er nicht da. Niemand beachtete seine Worte.
"Sie sind so real wie du selbst", erklärte die Fremde, "keine bloße Erscheinung. Doch genau, wie du zu ihnen hinabsteigen, sie anfassen und ansprechen kannst, bleibst du für sie unsichtbar. Genau wie der Fluß, die Böschung und das Ufer. Weil du das Ufer siehst, wirst du es erklimmen können. Und auch ihre Augen sehen das Gleiche wie die deinen. Nur glauben sie ihnen nicht. Was allein sie noch empfinden, sind Leid und Schmerz, ihr einziger Wunsch ist es, zu verletzen. Ganz erfüllt sind ihre Seelen von Haß und Verachtung. Kennten sie Hoffnung, ebenso leicht verließen sie den Hades, wie du es wirst."
"Aber sie leiden!", rief Paul fast froh. "Und nur wer liebt, kann leiden, den Leid ist die Liebe zum Verlorenen. Und wer liebt, der lebt. Es gibt noch

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 20

 

Hoffnung für sie. Warum", er riß sie zu sich herum, "gebt. ihr ihnen nicht zurück, wonach sie sich sehnen?"
"Weil wir es ihnen nicht genommen haben."
"Aber sie sind doch nur blind!" schrie er sie verzweifelt an, "Schenkt ihnen ihr Augenlicht wieder, ihr habt die Macht dazu!"
"Mächtig seid nur ihr allein. Von Menschenhand geschmiedete Ketten können nur von Menschenhand zerrissen werden. Es liegt allein an euch, dagegen aufzubegehren. Denn dieser Hades ist keine Strafe der Götter. Er ist ein selbstgeschaufeltes Grab."
Benommen schwankte Paul und fiel schließlich der Fremden in die Arme. "Dann gebt uns wenigstens Kraft", flüsterte er. "Schenk mir etwas von deiner Zauberkraft."
Beide sahen nicht, was sich hinter ihnen zutrug. Beiden war die Gestalt entgangen, die sich hinter einem Pfeiler verborgen und sie argwöhnisch beobachtet hatte, und die sich jetzt, mit einer Schaufel bewaffnet, an sie heranschlich. Eifersucht und Neid sprühten glühend aus Haralds Auge, als er nach Brudermord sann. Kreischend durchschnitt die schartige Schaufel die Luft, als sie auf Paul niedersauste.
"Harald – ", kam es halblaut und erschrocken aus Pauls Munde. als er seinem Freunde gewahr wurde, der wieder und wieder mit der Schaufel auf ihn eindrosch. Doch sie fuhr durch ihn hindurch, als sei er selbst nur eine Erscheinung.
"Verflucht", zischte Harald aufgebracht, "Was ist das für ein teuflisches Spiel? Warum treffe ich dich nicht? Und weshalb sehe ich dich nicht mehr?"
Tatsächlich veränderte Harald sich, entfleuchte alle Farbe aus ihm und zerfiel seine Kleidung in graue Lumpen. Und als Paul längst die Halle wieder verlassen und in den Morgen davon gegangen war, ward Harald ein neuer Tropfen geworden, der sich in den Hades ergoß.

 

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 21

 

Der Bahnsteig der Untergrundbahn, auf dessen sauberen Asphaltboden ich stand, wirkte frisch und neu. Wie ein Bahnsteig aussehen sollte. Zwei Gleise lagen im Bahnhof, blank glitzerten die Oberflächen im Neonlicht, eingerahmt von den beiden Bahnsteigen, die sich gegenüber lagen. Fest und stark und massiv ruhten die Bahnsteige auf ihren Fundamenten, die sich gerade und glatt aus der Erde erhoben. Nur wenn man genau hinsah, erkannte man den alten Bahnhof und die alten Bahnsteige. Viele kleine Rundbögen, aus Ziegelsteinen zusammengesetzt, die sich aneinander reihten, wie eine winzige, alte Brücke über einen breiten, ruhigen Fluß.
Eine Brücke, durch deren Bögen langgestreckte, flache Flußboote fahren. Die Bögen waren noch da, nicht nur als Schatten, niemand hatte sie weggenommen, nicht einmal die Zeit, sie waren noch da, und doch nur als Schatten, denn jemand hatte sie zugemauert. Zugegossen wohl vielmehr, Spachtelmasse, Plombenfüllung, denn statt der schwarzen Löcher, durch die die Schiffe fahren, strotzte stolzer Beton. Man hatte versucht, ihn schwarz anzumalen, doch war es nicht gelungen, Beton bleibt eben immer grau, und das Relief der Mauersteine verriet den Betrug. Ich blickte zu boden, auf den Asphalt des Bahnsteigs, und versuchte die alte Brücke zu fühlen, das Wasser, das an die Pfähle schlägt und das sanfte Brummen der langhubigen Dieselmotoren. Der alte Bahnsteig war noch da, niemand hatte ihn weggenommen. Auf den alten Boden hatte man einen neuen gespritzt, und er war ganz verschwunden.
Ihn konnte ich weder sehen nach fühlen, auch wenn ich es versuchte. Womöglich hatten ihn tausend und nach einmal tausend Füße abgetragen, bis er rauh und stumpf und ganz unansehnlich geworden war. Ich schloß die Augen, und sah auch das ein oder andere Loch, und stolpernde

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 22

 

Menschen. Soweit mochte ich verstehen. Der alte Boden war, ganz rauh und kaputt, erneuert worden. Das ergab einen Sinn. Doch wozu der Beton in den Bögen? Wen stört der Hohlraum, über den man geht und dabei nicht sieht? Was hatten sie nur gegen den alten Bahnsteig, der wie eine Brücke aussieht, durch die Flußschiffe fahren ich bezweifelte, daß es wegen des Wassers oder der Schiffe geschehen war, den wer außer mir hörte ihnen schon zu.
Sie hatten es wegen der Ratten getan, verstand ich mit nacktschwänziger Schläue. Einst warteten Reisende im Stehen auf die Untergrundbahn, während unter ihren Füßen, in den engen Rundbögen der Brücke, die Ratten schliefen. Damit war es nun vorbei. Kein Platz mehr für Unratläufer, Beton ist zu hart für Nagezähne. Sie verjagten die Ratten, und spritzen ihre Schlafzimmer zu mit Beton. Ich blinzelte im falschen Licht der Nacht und zählte die Rundungen, und versuchte mir vorzustellen, wieviele Ratten hier früher geschlafen haben mochten.
Für einen Augenblick verschwand der Beton, und ich beobachtete die Ratten in ihren Löchern, wie sie da lagen, auf ihren schmutzigen Bäuchen. Manche schliefen tief und fest und unter meinen Füßen hörte ich gleichmäßige, lange Atemzüge und scharfes Schnarchen. Zwei steckten vorsichtig ihre Köpfe heraus, und tranken gemeinsam, einander zugewandt, eine Flasche Wein. Ich blickte von Loch zu Loch, in unrasierte Gesichter, verfilzte Haare, müde Augen, verbrannte Wangen, zerfetzte Ohren und juckende Krätze; zahnloses Grinsen, schwarz gespickte Poren und billig tätowierte Oberarme. Zerlumpte, farblose Anzüge, der ein oder andere zerknautschte Hut mochte noch dazwischen sein, und vielzählige vollgestopfte Tüten mit dem ganzen Hab und Gut der Ratten. Doch damit war es jetzt vorbei. Der Bahnhof war gesäubert, und keine Ratte schlummerte mehr unter den Füßen der Bahngäste oder trank eine Flasche Wein. Selbst die Zähesten waren

 

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nicht resistent gegen das neue, graue Rattengift. Die Rundbögen waren zugespritzt, nicht etwa der Wellen oder der Schiffe, sondern der Ratten wegen.
Nackte Ratten, ohne Schwanz und ohne Nagezähne. Vielleicht fehlten die Zähne ihnen am meisten - den wer Zähne hat, der kann zurückbeißen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Fragmente der Einsamkeit I

Es war wieder einmal Montag, niemand weiß mehr, der wievielte es in seiner Schullaufbahn war, aber vielleicht ist das auch egal. Eigentlich war es noch gar nicht richtig Montag, es war die Nacht zwischen Sonntag und Montag und es war wieder einmal eine dieser schlaflosen Nächte, in denen man über seine Zukunft nachdenkt. Aber auch das ist eigentlich egal, jetzt wo sich das Leben unseres Protagonisten selbst ausgelöscht hat.
In dieser Nacht jedenfalls saß er wieder einmal auf seinem Bett in der kleinen Anderthalb-Zimmerwohnung, umgeben von millionen anderer Menschen, die mit ihm in der selben Stadt wohnten. Die, wie er, jeden Tag in einer Stadt verbrachten, die zwar groß und voller Menschen war, aber seelenlos. Seelenlos, wie das alte zum Abriß freigegebene Haus, auf des er blickte, wenn er durch die trüben, seit Monaten nicht mehr geputzten Fenster schaute, die ihn mit der Stadt verbanden.
In ein paar Stunden würde er wieder die Maske aufsetzen, die Maske des jungen, unbekümmerten Schülers, die er während seiner Kontakte mit Menschen zu tragen pflegte. Es war im Laufe der Jahre immer leichter geworden diese Maske zu tragen, wenngleich er doch immer mehr die Leere hinter ihr zu spüren vermochte. Ja, es fiel ihm leicht Menschen zu täuschen, es war ihm sogar gelungen Beziehungen zu einzelnen von ihnen herzustellen. Beziehungen die ihn zumindest äußerlich in die Gesellschaft integrierten und vielleicht war er es auch. Ja, man könnte sagen er war in die Gesellschaft eingebunden. Doch ihm erschienen diese Beziehungen ebenso leer, wie die Menschen zu denen er sie pflegte. Und pflegen mußte er sie und sich selbst! Allzuoft war er nahe daran gewesen auch diese Beziehungen abzubrechen; sie erschienen ihm so absurd.
Da umgab er sich mit Menschen, die ständig betonten,

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wie sehr sie doch um das Wohl anderer besorgt seien und wenn er eimnal ihre Hilfe benötigte, waren sie gerade mit so schwierigen Problemen beschäftigt, daß die Vorstellung, daß einer dieser Menschen sich um die Probleme von anderen kümmern wollte, in ihm nur Schrecken hervorrief.
Wie sollte, z. B. ein Mensch, der nicht einmal wußte, ob er einen anderen liebte oder nicht, ihm bei seinen Problemen helfen?
Öfter als es ihm lieb war kamen diese Menschen zu ihm und wollten seine Hilfe und nur allzuoft war er auch bereit gewesen ihnen mit Rat zur Seite zu stehen. Früher einmal hatte er auch anders geholfen, doch dazu war er heute nicht mehr bereit. Zu oft war er dabei enttäuscht worden.
So saß er also auf seinem Bett und sicherlich wäre er in dieser Nacht nicht allein gewesen, doch wer hätte seine Einsamkeit vertreiben können?
Es hätte jemand sein müssen, dem er sich vollkommen hätte anvertrauen können, in dessen Arm er den Rest der Nacht liegen und all seine Einsamkeit hätte herausweinen müssen.
Er stand auf und zog sich an, denn es fröstelte ihn, als ihm seine Einsamkeit mit einem Male voll bewußt wurde. Sein Blick schweifte suchend durch das Zimmer, aber er fand nichts, an das er sich hätte klammern können. So glitt sein Blick zu den Fenstern und hinaus in die Nacht. Dunkel und verlassen stand das alte Haus auf der anderen Straßenseite und schaute ihn traurig durch seine leeren Fenster an.
Er ging zu seinem Schreibtisch und zog ein weißes Stück Papier aus einer der Schubladen, nahm einen Stift in die Hand und begann einen Brief zu schreiben. Er hatte noch keine Zeile zu Papier gebracht, da bemerkte er, wie sich draußen etwas verändert hatte. Er drehte sich zum Fenster und sah erneut hinaus. Im alten Haus gegenüber war auf einmal Licht, ein warmes freundliches Licht, wie

 

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er es lange nicht mehr gesehen hatte, einmal vieleicht als
er zu Weihnachten bei seinen Großeltern gewesen war Wie lange mochte das jetzt her sein? Zehn, zwölf Jahre? Er stand damals vor dem, von seinem Großvater extra für ihn geschmückten Baum und konnte all die Pracht und Wärme, die dieser Baum ausstrahlte kaum in sich aufnehmen. Es war ein schönes Fest gewesen damals. Seine Mutter war noch dabei gewesen und er hatte Geschenke bekommen, aber das schönste war die Familie, die damals noch bestand. Er konnte von Einem zum Anderen gehen und sie alle in den Arm nehmen oder wurde von ihnen in den Arm genommen.
Heute war es anders. Seine Familie bestand schon seit langem nicht mehr. Er war vor acht Jahren mit seinem Vater in diese große, tote Stadt gezogen, nachdem sich seine Eltern, aus für ihn damals unverständlichen Gründen getrennt hatten; mittlerweile hatte er eingesehen, daß es für seine Eltern das Beste gewesen war sich zu trennen. Und seitdem er mit seinem Vater in dieser Stadt wohnte gab es diese Familienfeiern nicht mehr. Was zum größten Teil daran lag, daß es auch die Familie nicht mehr gab. Seine Mutter hatte einen anderen Mann geheiratet und wohnte jetzt mit ihm einige hundert Kilometer entfernt. Seine kleineren Geschwister waren bei ihrer Mutter geblieben, so daß er auch zu ihnen keinen Kontakt mehr hatte, geschweige denn eine Beziehung.
Vor zwei Jahren hatte er sich auch noch mit seinem Vater entzweit und wohnte seitdem allein in seiner kleinen Wohnung.
Er stand auf, griff nach seiner Jacke und verließ seine Wohnung. Seine Neugier war zu groß, er mußte einfach wissen, was für ein. Licht es war, daß all diese Erinnerungen in ihm wachrief.
Er machte kein Licht im Hausflur. Es mußte niemand wissen, daß er morgens um dreiviertel vier noch Spaziergänge machte. Das hätte nur die Neugier seiner

 

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Nachbarn geweckt und sie hätten ihn wieder mit Fragen gequält, wie sie es damals getan hatten, als er ein paar Tage seineWohnung nicht verlassen hatte. Eine Frau hatte bei ihm geklingelt und gefragt, ob mit ihm auch alles in Ordnung sei. Sie schaute sich dabei ständig in seiner Wohnung um, als wolle sie sehen, ob bei ihm auch alles recht ordentlich sei, um, im Falle es sei nicht, etwas zu haben womit sie ihn hätte tadeln können. Er knallte, ohne Antwort zu geben, die Tür vor ihr zu. Seitdem hatte sie ihn in Ruhe gelassen und auch nur noch selten gegrüßt, wenn sie sich zufällig im Hausflur trafen.
Kalt schlug ihm die klare Luft der Januarnacht ins Gesicht, als er die Haustür öffnete. Einsam standen die Straßenlaternen an ihrem Platz und bewarfen die Szenerie mit ihrem kalte Licht. Er war mittlerweile sicher, daß es eine Kerze oder etwas Ähnliches sein mußte; nur eine offene Flamme hatte so ein warmes Licht.
Er öffnete die Tür zu dem alten Abrißhaus. Sie war nur angelehnt, niemand verschließt ein Haus, welches in wenigen Tagen nicht mehr sein wird. Die Treppe war noch in einem guten Zustand, wie überhaupt der gesamte Hausflur, der sich von dem seines Hauses nur dadurch unterschied, daß die Lichtschalter nicht leuchteten, wie sie es in seinem taten, wenn kein Licht brannte.
Er ging dir Treppe hinauf in den ersten Stock. Links oder rechts? Er wußte es nicht mehr. Die linke Tür lag näher, also öffnete er diese zuerst. Ihm war nicht ganz wohl dabei, aber jetzt war er soweit gekommen, jetzt wollte er auch wissen...
Wissen? Was eigentlich? Was ging es ihn an, wenn in einem alten, zum Abriß freigegebenem Haus auf einmal Licht brannte? Hatte er nicht genug mit sich selbst zu tun, als das er sich jetzt auch noch damit beschäftigen mußte?
Er öffnete langsam die Tür und schaute durch den Spalt, der sich vor ihm auftat. Es war dunkel. Er trat in die vor ihm liegende Wohnung. An der ersten Tür blieb er kurz

 

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stehen, war da nicht ein Lichtschein, der unter der Tür seinen Weg fand? Vorsichtig öffnete er die Tür und wirklich, daß Licht mußte aus diesem Raum gekommensein.

Mitten in dem großen, fast die ganze Fensterfront einnehmenden Zimmer stand ein wundervoll geschmückter Tannenbaum und seine, über den ganzen Baum verteilten, Kerzen straften dieses warme, herzliche Licht aus.
Er setzte sich auf und schaute erneut aus dem Fenster, gegenüber sah er das alte Abrißhaus, welches ihn mit seinen dunklen, leeren Fenstern traurig ansah. Sein Blick wanderte wieder auf den Bogen Papier, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Zwei Worte standen mit zittriger Hand darauf geschrieben: "Lieber Großvater!".

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ein Vieleicht beherrscht den Tag,
ein Tag wird zur Ewigkeit,
Ein Vieleicht zur Qual.
Wann wird enden, was so leicht begann? Ein Ende in dem es kein Vielleicht mehr gibt und doch sucht man wieder einen Anfang, in der Hoffnung dem Etwaigen zu entgehen und das Sichere zu finden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ich bin unterwegs und brauche Zeit, noch mehr Zeit, um anzukommen.
Es ist ein weiter Weg voller Gefahren und Hindernisse, denen man begegnen muß, ausweichen, stoppen, zurück, ein anderer Weg, Vorsicht, bleib stehen, sieh dich um! Du mußt aufmerksam sein! Bleib nicht zurück! Geh weiter! Immer weiter...nein hier , das gefällt mir, hier ist es schön...
Ein Moment des Innehaltens, doch dan geht es weiter...unterwegs...keine Zeit; schwarzer Nebel verfolgt mich, umkreist mich...schneller, immer schneller unterwegs...
Noch so viel Zeit bis zur Ankunft...doch jetzt...
Ich verlangsame die Zeit, komme schneller voran. Nun habe ich Zeit, mich auszuruhen, ich denke an die Zukunft, das Ziehl,

voller Erwartung...

...Langeweile...

...Ungeduld!

Niemand der mir helfen kann. Alle warten, wie ich, verschlossen...aber...
Die Zeit ist langsammer, so bin ich schneller...unterwegs, ohne Mühe, sitzend, stehend, liegend komme ich an, setze mich vor den Kamin,
die flammende Zukunft.

 

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"Die letzte Seite"

Von "Scheinwelten" handelt die Juliausgabe, von jenen die wir suchen, jenen die wir fliehen, solchen die wir kennen und solchen die uns gar als Wirklichkeit erscheinen.

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Ferner beginnt mit der Nr.1 der Mummenschanzfortsetzungsroman, der in den Folgenden Ausgaben von verschiedenen Autoren fortgesetzt wird.

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Es sind die Leser herzlich dazu eingeladen Beiträge zu beidem oder anderen Themen einzusenden, wir können jedoch nicht garantieren, daß alle eingesanten Beiträge verwertet werden.

 

 

 

 

 

 

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ENDE

 

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