Heilende Vorsätze: Ich gelobe, nichts zu nehmen, was mir nicht gegeben wurde

Joan Halifax, Roshi

Die Gelübde, oder heilende Vorsätze, haben sich im Laufe viele Jahre in der Gemeinschaft der Schüler des Buddha vor 2.500 Jahren entwickelt. Als der Buddha die ersten Mönche ordinierte, gab es noch keine Gelübde, so wie wir sie heute kennen. Aber als die ersten Schwierigkeiten auftraten, mußten Richtlinien aufgestellt werden, die sowohl die Gemeinschaft als auch den Geist all derer schützen sollten, die Praktizierten. Die Gelübde waren und sind ein lebendiger Körper des Erwachens, ein Weg, um jetzt Buddha zu sein, und ein Schatz für unser Leben als soziale Wesen.

Der Buddha wußte dies. Und als er im Sterben lag, gab er seinen Schülern drei Empfehlungen: Er ermutigte sie, die "Wahrheit der Unbeständigkeit" zu erkennen, um so alle weltlichen Anhaftungen loslassen zu können; er bat sie, sich nach den Gelübden zu richten, um so den Geist zu festigen und in Einklang mit sich und allen Wesen leben zu können; und er ermutigte sie, sich selbst ein Licht sein, das heißt, die volle Verantwort für das eigene Leben zu übernehmen. Er verstand, dass die Grundlage für die Befreiung vom Leiden ein klares und ehrenhaftes Leben ist, und dass, wenn seine Nachfolger einen strengen moralischen Charakter haben würden, sich ihr Geist der innewohnenden Natürlichen Weisheit und dem Mitleid öffnen wird, und auch sie Buddhas sein würden.

Wenn wir diese Gelübde nehmen, entweder als Mönche, Nonnen oder als Laien, dann öffnen sie unser Leben einer tieferen Wahrheit, dass wir nämlich nicht getrennt voneinander sind. Indem wir die Gelübde leben, können wir erkennen, dass wir sowohl über die Bande des Leidens miteinander verbunden sind, als auch über die Bande der Erleuchtung. Und so erkennen wir, dass wir einen gemeinsamen Körper besitzen, ein gemeinsames Leben und ein gemeinsames Streben nach Glück und Frieden.

Wenn wir den Gelübden folgen wollen, müssen wir natürlich auch die klare Absicht haben, sie umzusetzen, auch wenn wir sie nicht ganz perfekt halten können. Und weil wir sie nicht perfekt halten können, wächst in uns ganz natürlich die Bescheidenheit und Freundlichkeit. Aber wir müssen natürlich auch in jeder Situation unser Bestes geben. Das ist der "Geloben-Geist", der Geist, der seine "innerste Bitte" Augenblick um Augenblick lebt, diese unermessliche Bitte, uns selbst und alle anderen vom Leiden zu befreien.

Das Sanskrit-Wort für Gelübde ist Sila. Es bedeutet ruhigbleibend und friedvoll. Dies ist eine Geisteshaltung, die nicht verfangen ist im Feuer der Erregung, des Hasses, des Verlangens oder der Verwirrung. Mit den Gelübden als unserem Leitstern im Leben werden Leichtigkeit und Gelassenheit in uns wachsen. Ohne mentale Stabilität können wir auf die uns umgebende Welt nicht in einer gesunden Art und Weise reagieren. Wenn wir uns und anderen nicht schaden, dann öffnet sich in unserem Leben eine Art Alchemie der Dankbarkeit und Leichtigkeit. Unsere Konzentration und Aufmerksamkeit werden stetiger und schärfer, und unsere Fähigkeit, die Natur der Wahrheit zu erkennen wird tiefer.

Wir alle leben mit Vorsätzen: Persönliche Vorsätze, die unserem Leben Bedeutung und Kraft geben. Wir müssen uns dieser Vorsätze bewußt werden und sie genau anschauen. Darüber hinaus leben wir in einem Geflecht von Regeln und Vorsätzen unserer Gesellschaft, unserer Religionen, und der alltäglichen Welt, in der wir stehen. Dennoch sind die wichtigsten Gelübde diejenigen, die unser Leiden umwandeln, die unser Ego zähmen und verwandeln. Es ist das Gelübde, Erleuchtung zu verwirklichen, die unser Herzen und unseren Geist öffnet für die Welt in uns und um uns herum, das uns zu erkennen hilft, wer wir wirklich sind, und dass wir nicht voneinander getrennt sind.

Die Gelübde fordern uns schließlich auf, die volle Verantwortung für uns selbst zu übernehmen, für die Situation, in der wir uns grade in diesem Moment befinden. Was ist unsere Geisteshaltung? Was ist unsere Haltung in Bezug zu unserer Lebenssituation? Wie können wir unsere Haltung dahingehend verändern, dass wir wirklich erkennen, dass wir nicht getrennt sind von allem was ist? Wie können wir erkennen, dass unsere Denkweisen, Haltungen und Ängste davon geprägt sind, wie wir auf die Welt in uns und um uns herum reagieren?

Wenn wir mit den Vorsätzen als unserer Basis praktizieren, dann fangen wir an, unser Leben wie Kunst zu betrachten: Damit unser Leben abgerundet ist, müssen wir die Dinge angehen, die uns am schwersten fallen und uns nicht an solche hängen, die uns nur zurückhalten. Das bedarf einer großen Verpflichtung und Disziplin. Ein Lehrer sagte einmal: "Disziplin ist die Gehorsamkeit zur Achtsamkeit." Gelübde schärfen unserer Achtsamkeit. Und das zu tun, was uns nicht so gut liegt, hilft uns Stärke zu entwickeln und unsere Ängste und mangelnde Zuversicht zu beseitigen.

Bei den buddhistischen Gelübden geht es darum, die Geisteshaltung der Armut zu ändern, die uns glauben gemacht hat, wir weniger seien geringer als wir es wirklich sind, und dass die anderen geringer sind als sie es sind. Wir leben so oft in dem grässlichen Zustand der Unzufriedenheit und projizieren diesen dann auf die Welt. Wir haben den menschlichen Geist unterschätzt. Das zweite Gelübde, dass uns auffordert nicht zu stehlen, spiegelt dieses Problem wider. Unsere Unzufriedenheit mit unserem Leben, mit dem was wir haben, was wir meinen zu sein, treibt uns dazu zu nehmen, was uns nicht gehört. Wir stehlen in unserem Geiste und Herzen - und mit unseren Händen. Die Gelübde fordern uns auf, nicht den Geist der Armut in uns und anderen zu nähren.

Das Gelübde, nicht zu nehmen, was nicht gegeben wurde, beinhaltet die Präsenz der Großzügigkeit. Wie können wir geben, darum bitten und annehmen, was nötig ist? Und wie können wir allen Wesen dienlich sein (unser eigenes Leben eingeschlossen)?

Darüber hinaus sind alle Gelübde in jedem einzelnen Gelübde enthalten. Der Vorsatz, nicht zu nehmen, was nicht gegeben wurde, trägt in sich den Vorsatz nicht zu töten, andere mit Würde und Respekt zu behandeln, nicht schlecht über andere zu reden und die Dinge klar zu sehen, unbeeinflußt von Giften, die den Geist verwirren. Leben zu nehmen ist Diebstahl; anderen keinen Respekt zu erweisen, ist Diebstahl an ihrer Würde; andere mit Worten zu verletzten, ist Diebstahl an ihrem Frieden; und nicht klar zu sehen, ist Diebstahl an unserer Fähigkeit, die Wahrheit der Dinge so zu sehen, wie sie sind.

Wenn wir nur ein einziges Gelübde vollständig leben, dann leben wir sie alle.

 

(c) Joan Halifax, Roshi, UPAYA Zen Center, Santa Fe, USA

Übers. Dr. Arndt Büssing, Schwerte (2002). Alle Rechte vorbehalten.