Sankt Petersburg Moskowskij Woksal – Moskowiter Bahnhof – 15.30 Uhr, unser Zug nach Moskau steht schon bereit, also machen wir uns auf die Suche nach den für uns reservierten Plätzen. Nach kurzer Zeit haben wir diese auch gefunden und warten auf die Abfahrt des Zuges. Siehe da, pünktlich nach Fahrplan um 15.50 Uhr setzt er sich in Bewegung, was uns doch überrascht, denn als Deutsche diesbezüglichen Kummer mit der DB gewöhnt hätten wir nicht gedacht, daß uns ausgerechnet die russische Eisenbahn vorführt, wie es auch anders geht. In zügiger Fahrt verlassen wir Sankt Petersburg oder "Piter" wie die Einheimischen ihre Stadt liebevoll nennen, wobei das Häusermeer einfach kein Ende nehmen will. Man hat uns gesagt der Großraum Sankt Petersburg hat 7,5 Millionen Einwohner, und wir glauben das jetzt gern. Doch dann nach einiger Zeit lichtet sich die Bebauung und wir fahren durch den für diese Gegend typischen Birkenwald, was sich die 650 Kilometer bis nach Moskau auch selten ändern wird. Dies ist für uns als Mitteleuropäer recht außergewöhnlich, sind wir es doch gewöhnt bei einem Blick aus dem Zugfenster hauptsächlich landwirtschaftliche Flächen wahrzunehmen. Mittlerweile sind wir mit einem Südafrikaner ins Gespräch gekommen, der für die Vereinten Nationen als Arzt tätig ist, und uns durch seine Lebenslustigkeit auffiel, nach dem Motto: "Hans Dampf in allen Gassen". Dieser Aspekt bekam eine ganz andere Bedeutung als er erzählte, daß er unheilbar an Krebs erkrankt sei und wahrscheinlich nicht mehr lang zu leben hätte, bewundernswert wie er damit umging! Jetzt fuhren wir schon knapp drei Stunden und der Lokführer heizte als wenn er einen dringenden Zahnarzttermin in Moskau hätte. Doch schließlich, noch einmal zwanzig Minuten später verlangsamte der Zug die Fahrt und wir erreichten den ersten Zwischenstopp namens "Bologoje-Mosk". In den zehn Minuten Aufenthalt wechselte ein großer Teil des Publikums im Zug, unter anderem stieg eine junge Frau zu, die dadurch auffiel, daß sie pausenlos weinte. Wie dem auch sei der Zug fuhr wieder an, um die noch verbliebenen 330 Kilometer bis Moskau zu bewältigen. So langsam machte ich mir Gedanken, ob unser Bekannter in Moskau uns auch abholte, denn wir hatten unsere Ankunftszeit nur seiner Mutter durchgegeben, da er nicht erreichbar war. Seine Mutter allerdings sprach nur Russisch, und von daher war dies nun auch ein guter Test unserer Russischkentnisse. Wenn er also nicht erscheinen sollte, wäre unser Russisch doch arg renovierungsbedürftig! Da half nur hoffen, denn in einer 12 Millionenstadt in der man noch niemals vorher war, ist es bestimmt nicht lustig nach einer Adresse zu suchen. Während dieser Gedanken stellte ich fest, daß die in "Bologoje-Mosk" eingestiegene junge Frau immer noch auf dem Gang stand und weinte, unglaublich, seit über einer Stunde! Nun war es bereits dunkel geworden, und wir erreichten "Kalinin/Twer" die zweite Zwischenstation und letzte vor Moskau. Wieder wechselte ein Teil der Fahrgäste aber schon nach kurzer Zeit ging es weiter, und "unser" Südafrikaner tauchte wieder auf. Der hatte sich in der Zwischenzeit mit den Schaffnern angefreundet und lud uns zu einem Gläschen Wodka ins Schaffnerabteil ein. Na klasse, dachte ich, das wird ein lustiger Abend! Wir fügten uns also unserem Schicksal während der Zug durch die Dunkelheit jagte, und die junge Frau noch immer schluchzend auf dem Gang stand, die wurde mir langsam unheimlich! Im Schaffnerabteil angekommen stellten wir fest, daß die beiden Schaffner recht locker drauf waren, und daß der Wodka zu dieser Uhrzeit auch schon wieder schmeckte. Schließlich machten sie Photos von uns mit einer Sofortbildkamera, die, wie wir später erfuhren, für Bilder im Falle eines Unfalls im Zug gedacht war. Nur schade, daß wir den gesamten Film verknipst hatten, also ein Unfall darf jetzt nicht mehr passieren dachte ich, auch gut. Plötzlich wurde der Zug langsamer und bremste bis zum Stillstand ab. Die beiden Schaffner liefen nachschauen was los ist, und ließen uns allein in ihrem Abteil zurück. Nach zirka zehn Minuten fuhr der Zug weiter und die beiden tauchten wieder auf und erklärten es habe sich um einen Signalfehler gehandelt, so, so sollte ich die Pünktlichkeit der russischen Eisenbahn doch zu früh gelobt haben? Naja, die junge Frau stand immer noch auf dem Gang und weinte, und ich dachte nur: die muß doch langsam dehydrieren! Hoffentlich zerfällt sie nicht gleich vollkommen ausgetrocknet zu Staub! Denn die Kamera für Unfälle war ja jetzt ohne Film, anders wiederum wäre eine Mund zu Mund Beatmung bei ihr sicher nicht unangenehm gewesen, sie sah ausgesprochen gut aus. Jetzt erreichten wir die Außenbezirke von Moskau und ich war schon etwas aufgeregt, wie würde sie sein die Stadt über die soviel geschrieben und erzählt wird, die größte Stadt Europas? Die Hauptstadt der ehemaligen "bösen" Sowjetunion, die Hauptstadt der heutigen Russischen Föderation, dem größten Land der Welt. Morgen würden wir auf dem Roten Platz stehen, den Kreml besuchen, uns die zu Palästen ausgebauten Metrostationen anschauen, alles Dinge, die wir nur aus dem Fernsehen kannten. Einfahrt unseres Zuges in den Leningradskij Woksal – Leningrader Bahnhof – in Moskau, es ist 22.03 Uhr also zehn Minuten nach Fahrplan, damit kann man leben. Nachdem wir mit den Schaffnern und dem Südafrikaner die Adressen getauscht hatten, stiegen wir aus und hofften, daß man uns abholte, und… unser Kumpel war tatsächlich da! Glück gehabt! Er begrüßte uns, und fragte ob wir etwas dagegen hätten sofort zu einer Fête zu fahren. Wir hatten natürlich nichts dagegen, und ich dachte mir mit meinem schon leicht alkoholumnebelten Hirn: morgen früh wirst du 'nen unglaublich dicken Kopf haben, damit sollte ich auch recht behalten, aber das ist eine andere Geschichte. Jochen |