KOMMENTAR zur
Amerikas Unheilige Allianz
Bomben auf Belgrad: ein uraltes Prinzip als "Neue Weltordnung"
von Herminio Redondo
(Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift SIGNAL, Köln)
Der vielschichtige Balkankrieg der NATO berührt unzählige geopolitische Fragen, die weit über das Schicksal der Albaner im Kosovo hinausreichen. Aber selbst bei größter Vereinfachung läßt dieses Drama die drei grundsätzlichen Blickrichtungen der Chronologie zu: Blicken wir in die Vergangenheit, so trägt - auch in diesem Fall - die Siegerpolitik der Westalliierten in den Jahren 1918/19 ein gerüttelt Maß unmittelbarer Mitschuld an der späteren Entwicklung, deren vorläufiger Höhepunkt eben die Unruhen und die Kriege sind, die seit 1991 im Gebiet zwischen Slowenien und Mazedonien stattgefunden haben bzw. noch stattfinden.
Der Balkan und das dortige Staaten- und Völkermosaik galten immer als unruhig und schwierig. Hier trafen Jahrhunderte hindurch das mittelländische Europa und die Großreiche Vorderasiens aufeinander; seit zweihundert Jahren liegen hier zusätzlich eine wichtige Grenze zum "weichen Bauch" Rußlands und dessen ersehnter Ausgang zum warmen Mittelmeer. Tatsache ist auch, daß 1919, nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und der Zertrümmerung der Habsburger Monarchie, als zudem Rußland vorläufig handlungsunfähig war, England und Frankreich ihr damals entschei-dendes Gewicht nicht auf die Waage gelegt haben, um einen für die dortigen Völker auch nur halbwegs erträglichen Ausgleich herbeizuführen; sie benutzten lediglich die vordergründigen Aspekte der damaligen internatio-nalen Konjunktur, um ihre "Einflußsphären-Politik" - mit allen üblen und üblichen Begleiterscheinungen - durchzusetzen. Wenn schon aus einer solchen Vorgangsweise heraus überall früher oder später Spannungen und Konflikte keimen, so erst recht im ohnehin stets feuergefährlichen Balkan: diese als vermeintliche Schlauheit betriebene kurzsichtige Taktik der Regisseure von Versailles und St. Germain sicherte auch in diesem Gebiet die Stiftung künftiger Kriege.
Nicht viel klüger handelte vor allem Churchills Britannien während des Zweiten Weltkrieges - Frankreich war inzwischen nur noch Nebenfigur. In welchen Abgrund sie diese Politik geführt hatte, dürfte spätestens 1945 jedem vernünftigen Franzosen und Engländer klar geworden sein. Und dennoch mußte 1991 und auch danach unser verdutztes Europa feststellen, wie stark die angeblichen Sieger von einst noch heute längst überholten und schon deshalb gemeingefährlichen Vorstellungen jener unseligen Theorie des "europäischen Gleichgewichts" anhängen. Überdeutlich zeigten sich die Schatten dieser Trugbilder mitten im Wirrwarr der - in Wahrheit nicht existierenden - Außenpolitik der Europäischen Union nach dem Mauerfall, besonders kraß aber gerade im Zusammenhang mit Jugoslawien und dessen Nachbarn.
Was die Gegenwart betrifft, also die jetzigen Bombennächte, so lassen sich wichtige Dinge unmißverständlich erkennen: Dieser Krieg ist ein Krieg Amerikas. Weder militärisch noch politisch wird er wesentlich von den europäischen Staaten, geschweige denn von den europäischen Völkern getragen. Wir dürfen auch diesmal bestimmt den Krieg und den Wiederauf-bau mitbezahlen; und ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß dürfen die europäischen "NATO-Truppen" gewiß beim Angriff auf Jugoslawien mithelfen, gegebenenfalls auch dabei mitsterben, alles andere wird jedoch in Übersee beschlossen. Wie immer dieses blutige Schauspiel ausgehen mag: Europa wird dabei in jeder Hinsicht verloren haben.
Was aber sucht Amerika in Kosovo? Es muß ja besonders wichtig sein, hat es doch nicht gezögert, alle von ihm selbst seit eh und je wiederholten Deklamationen über Selbstbestimmung, Nichteinmischung, Gewaltverzicht, Ächtung des Angriffkrieges, "Werte der internationalen Gemeinschaft" usw. usf. über Bord zu werfen. Nicht einmal das Feigenblatt einer UNO-Resolution hat es sich diesmal besorgt. Und die amtliche Begründung, es gehe darum, die Rechte der Kosovo-Albaner zu schützen, schiene uns gerade aus amerikanischem Munde glaubwürdiger, wenn sich die selbsternannte "moralische Führungsmacht des Westens" bei Tibetern, Kurden, Palästinensern, Ibos und tanti quanti nicht ganz anders, ja geradezu gegensätzlich verhielte.
Als kleine europäische Bürger zu Fuß sind uns natürlich die hohen, hehren Gedanken Washingtoner Weisen unerreichbar und unbekannt. Wir müssen uns bei unseren Erwägungen auf die läppischen Tatsachen stützen, die uns von der alltäglichen Erfahrung vermittelt werden bzw. die wir dem Wust der stark gesiebten und vermutlich nicht weniger stark aufbereiteten Meldungen entnehmen.
Daß die Zerstörung von Brücken, Bahnen und Büros in Serbien zur größeren persönlichen Sicherheit der Albaner in Kosovo beitrage, ist jedenfalls nicht unmittelbar einsichtig. Die Vertreibung dieser Menschen ist im übrigen durch die ständigen Luftangriffe allem Anschein nach keineswegs verhindert, sondern geradezu gefördert worden.
Selbst Amerika-freundliche Kommentatoren äußern öffentlich ihre Verwunderung: Es gibt in der NATO-Planung keine politischen Optionen in diesem "Krieg der Hippies"! (Clinton, Schröder, Solana und noch ein paar NATO-Etceteras standen bekanntlich, einige Jahre, bevor sie zu Kriegsherren wurden, jenen nahe, die lieber dem Koitus als dem Krieg huldigen wollten.) Was sollte nun ein Krieg ohne politische Planung und Zielsetzung?
Die wortreichen, aber vordergründigen Erklärungen der NATO lassen geflissentlich ein Thema aus, dessen Wichtigkeit jedoch kaum überbewertet werden kann, nämlich die Tatsache, daß es im Balkan, nicht erst jetzt, aber heute mit erneuter Virulenz, der Gegensatz zwischen dem ethnischen Ordnungsprinzip und dem Prinzip der "Staatsräson" der international wirkenden Großmächte ausgetragen wird. Erst kürzlich hat der Historiker Hans Christian Löhr in der FAZ an die turbulente Epoche der "Heiligen Allianz" erinnert, als nach Napoleons Niederlage die Herrscher Europas beschlossen, ihre als "Legitimität" bezeichneten dynastischen Interessen eben durch politische Polizei, Zensur und militärische "Interventionen" gegen die aufkommenden Nationalbewegungen durchzusetzen.
Die Forderung nach Autonomie der Völker, also nach Bildung bzw. Gliederung der Staaten auf ethnischer Grundlage, war den Herrschenden zu keiner Zeit genehm und ist heute darüber hinaus von der "internationalen (!) Gemeinschaft" weithin verpönt, in manchen Staaten der sich als "liberal" darstellenden EU sogar kriminalisiert. Ein Blick in die Geschichte aller Zeiten, besonders aber in die unseres Jahrhunderts, bezeugt unbestreitbar, daß die Nation keine blaue Blume romantischer Dichter ist, die also mit ihnen und dem 19. Jahrhundert verwelkte. Die Tatsache, daß der nationalen Forderung und der ihr zu Grunde liegenden natürlichen Bestrebung nach Selbständigkeit nicht Rechnung getragen, sondern vielmehr, und oft sogar mit militärischer Gewalt, gegen ihre Vertreter vorgegangen wurde und wird, bildet ein wesentlicher Teil aller Probleme des Balkans.
Auch wenn die "internationale Gemeinschaft" es nicht glauben will: Die Mißachtung des nationalen Prinzips muß schon deshalb immer wieder zu Spannungen und Konflikten führen, weil ihm der spontane Drang des Menschen nach freier Entfaltung und Ausgestaltung seiner Eigenart natürlich innewohnt.
Amerikas Balkankrieg ist ein antinationaler Krieg, ein Krieg gegen das Prinzip der Selbstbestimmung. Auch die vollmundige NATO-Parole, wonach es ein Zweivölker-Kosovo geben müsse, wiederholt im Grunde lediglich die bereits im Bosnienkrieg wie in der Gesamtheit des Nach-Tito-Jugoslawiens als Absurdum erwiesene Theorie des Multikulti-Staates. Ihre Anhänger beharren auf das Vermengen von Nationalitäten - der offensichtlichen Realität zum Trotz, daß jede Vielvölkergesellschaft eine potentielle Bürgerkriegsgesell-schaft und längerfristig immer eine Zerfallsgesellschaft ist. Es ist freilich möglich, solche Zerfallsgesellschaften künstlich - und meist blutig - am Leben zu erhalten: durch die Aufstellung von Besatzungsarmeen. Man denke an Bosnien, Nordirland, Palästina - oder eben auch an die vergangene Sowjetunion.
Die gesamte Balkan-Politik des sogenannten Westens seit 1991 bietet sich dar wie der Versuch, politische Probleme von heute mit den militärischen Strategien der "Heiligen Allianz" von einst anzugehen. Konnte man aber den gegenwärtigen - wenn auch nicht erklärten, so doch wuchtigen - Krieg der Vereinigten Staaten und ihrer NATO gegen Jugoslawien aus der Faktenlage heraus schon als Neuauflage der einstigen Politik der europäischen Dynastien ansehen, so haben die beim Washingtoner Treffen neulich verlautbarten NATO-Grundsätze diese Einschätzung geradezu explizite bestätigt.
Wie soll man die Kunde, die "Allianz" erwäge, gegebenenfalls auch außerhalb "ihres" Gebietes und ohne Genehmigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Gewalt anzuwenden, anders interpretieren, als den Versuch, sich selbst ein Blankoscheck für weltweite militärische Interventionen auszustellen? Also für das Recht, nach eigenem Gutdünken Kriege zu führen? Was soll man von der Ankündigung halten, man sei bestrebt, überall zu intervenieren, wo die "westlichen Werte" zur Geltung gebracht werden müßten?
Angesichts solcher Ansprüche können die Nachrichten aus Rußland nicht überraschen, wonach 64% der Befragten die NATO als "allgemein bedrohlich" empfinden. Der russisch-orthodoxe Patriarch will keine NATO als "Weltpolizist", und der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses der Duma, Lukin, zeigte sich vom NATO-Anspruch befremdet, "wie der Herrgott zu bestimmen, was auf der Welt richtig ist und was nicht."
Mit ganz besonderer Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang die "Vorwärtsstrategie" der NATO, sprich der amerikanischen Außenpolitik, im Hinblick auf die Balkanstaaten Bulgarien, Rumänien, Mazedonien usw. zu betrachten. Amerika schiebt bereits in diesem Fall seine militärische Macht weit in Gebiete hinein, die bisher nicht nur außerhalb "seiner" Welthälfte lagen, sondern an die Weichteile Rußlands heranreichen. Der unausgesprochene, aber stets gegenwärtige und spürbare Gegensatz zwischen dem amerikanisierten Westen Europas und dem ausfransenden russischen Osteuropa könnte plötzlich eine bedrohliche Aktualität erreichen, die vermutlich mit noch stärkerer militärischer Präsenz Amerikas in Europa beantwortet würde.
Unbestreitbar sind schon jetzt sichtbare Folgen, die die künftige Entwicklung der europäischen Politik, weit über die Balkanhalbinsel hinaus, bestimmen werden: Dieser Krieg trägt zur Destabilisierung des ganzen europäischen Südostens bei. Die materiellen Schäden betreffen nicht nur Jugoslawien, sondern die gesamte ohnehin wirtschaftlich schwache Region. Diese Tatsache verschärft die politische Labilität weiter. Die torkelnde Einigung- und gar "Erweiterungs"-Politik der EU erhält durch nicht absehbare finanzielle und politische Zusatzlasten einen geradezu illusionären Charakter: die gesamte EU-Planung der Nachkriegszeit könnte plötzlich in sich zusammenbrechen.
So ergäbe sich als mittelbare Wirkung des Kosovo-Krieges eine "neue NATO", diesmal nicht "um die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten", wie das Motto bei der Gründung der "alten" vor einem halben Jahrhundert lautete, sondern um Amerikas "Präsenz" im Westen, Norden und Süden Europas weiter zu festigen und ein ganzes Stück darüber hinaus auszubreiten.
So gesehen haben die Bomben auf Belgrad vielleicht doch eine klare politische Zielsetzung.
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