Inventur der Republik, Fragen an ihre Bürger
Diesen Mann kennt so gut wie jeder, der politische Talk-Shows sieht - was man von seinen Kollegen so ohne weiteres nicht sagen kann. Bei Erich Böhmes "Talk im Turm" hat er regelmäßig mitgestritten, das Abonnement wurde für "Talk in Berlin" (n-tv) offenbar verlängert.
Arnulf Baring, Politologe und Autor eines erfolgreichen Standardwerkes zu einem der spannendsten Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte ("Machtwechsel. Die Ära Brandt- Scheel") hat im vergangenen Jahr einen lesenswerten und überaus lesbaren Band mit Texten aus beinahe 40 Jahren vorgelegt. Lesbar, weil Baring nicht zu den Wissenschaftlern gehört, die ihre Leser mit Theorien und Modellen langweilen. Baring erzählt - nicht zuletzt aus eigener Anschauung. Zunächst von der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945, die er bei seiner Großmutter miterlebte. Aber der Autor, Jahrgang 1932, hat ausserdem wichtige Stationen der neugegründeten Republik begleiten können. "Zerstörung und Neubeginn" wäre deshalb kein weniger geeigneter Buchtitel gewesen.
Folgt man Baring, dann wurde die Bundesrepublik in zwei Phasen gegründet. Phase I mit der Westbindung, dem "Wirtschaftswunder" und der Organisation der parlamentarischen Opposition repräsentieren Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Schumacher (nie gehört? - das war bis 1953 der SPD-Vorsitzende). In dieser Phase gewannen die Deutschen nach außen das verlorene Vertrauen zurück, nach innen konnte die Republik auf eine Zustimmung der Mehrheit gestellt werden, an deren Fehlen die Weimarer Republik gescheitert war.
Phase II brachte die Ostpolitik und die Integration der außerparlamentarischen Linken. Baring nennt hier - wie anders - Willy Brandt, den damaligen Außenminister Walter Scheel und Gustav Heinemann. Mit der Ostpolitik gewann die Bundesrepublik den aussenpolitischen Handlungsspielraum zurück, den sie durch die Nichtanerkennung der DDR und die "Hallstein-Doktrin" (keine di
plomatischen Beziehungen zu Staaten, welche die DDR anerkennen) eingebüßt hatte.
Baring versteht es, die Geschichte zwischen der Zerstörung Dresdens und Brandts Kanzlerschaft lebendig, anschaulich und, wie ich meine, weitgehend ideologiefrei dem Leser näher zu bringen. Ein Musterbeispiel für sein unvoreingenommenes Herangehen scheint mir ein gar nicht langer Aufsatz aus dem Jahre 1962 zu sein: "Patriotische Fragezeichen". Baring erwägt hier höchst nüchtern das Interesse der DDR am Bau der Mauer im Jahr zuvor, weist auf die Gefahr hin, die mit dem Ausbluten und dem Zusammenbruch des sowjetischen Satellitenstaates verbunden wäre und kommt zu dem Ergebnis, dass eine "Wiederannäherung in Deutschland" die "Anerkennung der Spaltung" zur Voraussetzung hat. Man meint, in dieser Formulierung ein Grundmoment der späteren Ostpolitik wiederzuerkennen.
Aktueller wird es im letzten Kapitel des Buches: "Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen". Auf knapp 70 Seiten skizziert Baring im Frühjahr 1999 die neue Lage der Republik nach der Wiedervereinigung und dem Regierungswechsel von zurückliegenden Herbst. Welche Fragen müssen nun beantwortet, welche Probleme gelöst werden? Die europäische Integration, die EU-Erweiterung nach Osten, der Euro, Deutschlands lebenswichtige Partnerschaft mit den USA sind einige der außenpolitischen Themen dieses Abschnittes.
Zur Diskussion stellen möchte ich aber einige innenpoltische Themen:
I. Baring macht darauf aufmerksam, daß - im Vergleich mit Frankreich und den USA - die Bundesrepublik sich nicht besonders gut darzustellen weiss. Die Selbstdarstellung einer Nation geschieht in der Regel durch repräsentative Ereignisse und nationale Symbole. Deutschland hat in dieser Hinsicht nicht eben viel zu bieten, Bürger anderer Länder zeigen unbefangener "Flagge". Liegt der Grund für diese Zurückhaltung in der jüngeren Geschichte - oder eher in unserer Verfassung, d
ie dem obersten Repräsentanten des Staates praktisch keinerlei Macht einräumt und der sich somit als nationale Identifikationsgestalt wenig eignet? Braucht unsere Republik überhaupt eine deutlicher sichtbare symbolische Selbstdarstellung oder wird diese mit der europäischen Einigung zunehmend überflüssig?
II. Damit hängt zusammen die Frage nach dem Nationalstolz der Deutschen - Baring nennt es bescheidener, wir sollten von uns "eine gute Meinung" haben. Den Satz "Ich bin stolz, Deutscher zu sein" dürfte wohl jeder in der einen oder der anderen Form kennen. Anderen Völkern scheint das Bekenntnis zum Nationalstolz kaum Probleme zu bereiten - uns Deutschen schon.
Zunächst: ich finde diese Zurückhaltung falsch, ja verhängnisvoll. Zu dem zitierten Bekenntnis allerdings ist einiges zu sagen.
Er wirkt, erstens, ( das mag Geschmacksache sein) reichlich "abgelutscht". Er wird, zweitens, von Rechtsextremisten gerne als Parole verwendet, bekommt deshalb meines Erachtens einen falschen Klang. Schließlich ist ein solches Bekenntnis reichlich inhaltsleer - ebenso sinnvoll wäre es, stolz auf sein Geschlecht oder die Haarfarbe zu sein. Mitunter kommt mir dieses Bekenntnis wie eine Trotzreaktion auf erfahrene (oder eingebildete) Zurücksetzung vor.
Der Fall ist damit aber noch nicht erledigt. Hat der Stolz auf die Zugehörigkeit zu einer Nation nicht doch einen guten Sinn - vorausgesetzt, man macht sich klar, worauf man eigentlich stolz sein will? Können Naziglatzen darauf eine Antwort geben?
Können wir Deutsche nicht z.B. stolz sein auf 50 Jahre soziale Demokratie, an deren Gelingen wir mitgewirkt haben oder noch mitwirken werden? Die Bundesrepublik ist - alles in allem - eine Erfolgsgeschichte, an der jeder mehr oder weniger beteiligt ist.
Wahrscheinlich greift das aber noch zu kurz. Ein anderes Beispiel: ein italienischer Freund hat mir vor einiger Zeit gesagt, wie stolz er als Deutscher darauf wäre, daß Bach ein Deuts
cher war. Er hat ganz recht. Bach war in Deutschland möglich - wäre er im katholischen Spanien, im orthodoxen Russland möglich gewesen? Für England war Händel ein willkommener Import, und vielleicht sind einige Engländer ein wenig stolz darauf, ihm ein angemessenes Forum für seine Musik geboten zu haben.
Weitere Namen, Ereignisse, Eigenarten mag jeder für sich ergänzen. Kein Volk ist stolz auf die weniger erfreulichen Kapitel seiner Geschichte. Auch die Deutschen nicht. Aber weshalb sollen wir nicht stolz sein auf das, was unsere Nation reich macht - und was von ihr andere Völker bereichert hat? Mir scheint, es fällt dann auch leichter, sich der schlimmen Seiten zu erinnern.
(Das klingt nun vermutlich arg harmonisch, aber der Teufel steckt mal wieder im Detail...)
III. Die Integration von Ausländern und Neubürgern - sicher eines der ganz wichtigen innenpolitischen Themen der nächsten Jahre. Fehlt uns Deutschen, wie Baring meint, im Unterschied zu Briten, Franzosen und Amerikanern eine Vorstellung davon, was wir im Hinblick auf ihre Integration von den Neubürgern eigentlich wollen?
Ich meine: ja - aus zwei Gründen. Zum einen lernen die Deutschen erst allmählich, dass die Mehrheit der hier arbeitenden Ausländer auf Dauer bleiben will (einige lernen es gar nicht). Man nimmt sie im Grunde kaum zur Kenntnis und unterstellt, da viele wirklich Fremde bleiben, eine Rückkehrabsicht.
Andererseits fehlt aber auch die Entschlossenheit, eine Art von "Leitkultur" für jene zu formulieren, die neu ins Land kommen. Einige Lernresultate sollten aber schon aus pragmatischen Gründen unbedingt angestrebt werden: ausreichende Sprachkenntnisse, Einhaltung der Gesetze, die Beachtung von "Üblichkeiten", die den Zugang zur kulturellen Mehrheit erleichtert. Das Bekenntnis zum Grundgesetz. Was darüber hinaus geht - Sitten, Gebräuche, Religion, generell der Privatbereich - kann jedem anheimgestellt bleiben.
Wenn uns das gelingt, behaupte ich,
gelingt uns zugleich die "multikulturelle" Gesellschaft.
Arnulf Baring, Es lebe die Republik, es lebe Deutschland! Stationen demokratischer Erneuerung 1949-1999, Stuttgart 1999
Schnellzug durch ein kurzes Jahrhundert
von Andreas von der Heyde
Einem historischen Zeitraum kann man sich auf zweierlei extreme Weise zuwenden. Zum einen in der Weise der Annalistik mit dem fortgesetzten <<...und dann...und dann...>> ihrer Aufzählung. Wir werden bei dem Nacheinander von Jahren nicht den Eindruck gewinnen, sehr viel mehr als ein paar mehr oder weniger belangvolle Begebenheiten erfahren, geschweige denn, von dem in Frage stehenden Zeitraum - sagen wir mal dem Thema zuliebe: ein Jahrhundert - etwas verstanden zu haben. Zumindest wäre ein hypothetisches Verstehen nicht die Leistung des zugrunde liegenden Textes. Wir würden dem Annalisten allenfalls zugestehen, immerhin ein Gespür dafür gehabt zu haben, was in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse berichtenswert gewesen ist.
Das andere Extrem haben wir beispielsweise in Hegels <
Aber genug geschwafelt. Kommen wir zum Buch.
Wie es sich gehört für jemanden, der <
Das reicht Diner aber nicht. Vor dem Großkonflikt der Ideologien wie nach seinem Ende gärte und gärt, so der Befund unseres Autors, der Konflikt der Ethnien und Nationen, der durch den Kampf zwischen Freiheit und Gleichheit nur vorläufig unter den Teppich gekehrt zu sein schien.
Da beginnen auch schon die Probleme. Ungewollt provoziert Diner nämlich die Frage, ob wir es bei dem Konflikt der Völker und Nationen nicht mit dem in Wahrheit zu traktierenden Konflikt zu tun haben, ob Diner also nicht schwer auf dem Holzweg ist, wenn er seinen Einheitsgesichtspunkt andersw
o sucht. Wenn aber der Konflikt Volk/Nation tatsächlich ausser Kraft gesetzt war, solange sich Freiheit und Gleichheit auf Weltniveau feindselig gegenüber standen, dann ist seine Erklärungsleistung gerade für den von Diner gewählten Zeitraum ausserordentlich gering. In Wahrheit dürfte es sich so verhalten, dass die ethnischen Konflikte Mittel- und Osteuropas während der Blockbildung nach 1945 aufgehoben schienen, während sie in der ersten Jahrhunderthälfte zu massenmörderischen Exzessen führten. Das 20. Jahrhundert wäre also mindestens zweigeteilt.
Mit der Zweiteilung liesse sich leben, wenn Diner nun wenigstens beide Grosskonflikte annähernd gleichwertig berücksichtigte und - zu wünschen wärs - in ein Verhältnis zueinander brächte, bei dem mehr heraus kommt als ein einerseits/andererseits. Der Konflikt Volk/Nation aber bietet Diner die nur zu willkommene Gelegenheit, auf 300 Seiten die reichlich bekannten und - was Wunder! - gründlicher, genauer und verständlicher geschilderten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen nachzuerzählen: Deutschland gegen Frankreich, Russen gegen Polen, Deutschland mit und gegen die Sowjetunion, Diktatur und Völkermord, zwischendurch britische Innenpolitik und eine Kürzestgeschichte der Weimarer Republik - die wichtigsten Stationen der europäischen Geschichte präsentiert Diner im Eiltempo und stellenweise mit Ballungen von Abstrakta, die einem vermutlich das Lesen verleiden sollen.
Dabei will ich gerne einräumen, dass Diners Buch einige Qualitäten aufweist. Es hat was, wenn der Auftakt der europäischen Katastrophen ausnahmsweise mal nicht in Mitteleuropa lokalisiert, sondern an die östliche Peripherie verlegt wird, wo der Zerfall des Osmanischen Reiches das Muster späterer Nationalitätenprobleme bereits im Verlauf des ersten Weltkriegs generiert. Diner hat auch sonst immer wieder interessante Überlegungen zu bieten - darüber werde ich gegen Ende einige Worte verlieren. Aber mit Blick auf
das selbst gestellte Thema mag ich ihm dennoch nichts schenken: das verliert er im Allerlei der Einzelheiten aus dem Auge. Unbeantwortet bleibt also die Frage, ob und ggf. inwieweit die französische Politik gegenüber dem im ersten Weltkrieg besiegten Deutschland, das Verhältnis von Türken und Griechen oder überhaupt die Mehrzahl der auf den Seiten 21 bis 315 erzählten Begebenheiten etwas mit dem diagnostizierten Konflikt von Freiheit und Gleichheit zu tun haben und wie Diners Diagnose mit den bevorzugt präsentierten Konflikten von Ethnos und Nation zusammen hängen. Bei allen diesen Fragen Fehlanzeige, wohin das Auge blickt.
Das ist dann auch schon die Überleitung zum Kardinalpunkt der Kritik. Sicher ist es auch dann, wenn man eine Epoche unter einem Einheitsgesichtspunkt interpretieren will, zulässig bzw. erforderlich, das Mannigfaltige darzustellen. Es ist aber ebenso erforderlich, das Verhältnis des Mannigfaltigen zu dem jeweiligen Einheitsgesichtspunkt zu klären, wenn die gewünschte Lesart plausibel werden soll. Davon kann bei Diners Nacherzählung keine Rede sein. Diner wäre, wenn er sich diese Überlegungen zu Herzen genommen hätte, auch keineswegs zu der Kärrnerarbeit genötigt gewesen, jedes der von ihm ausgewählten historischen Ereignisse unter seinem Einheitsgesichtspunkt zu lesen. Er hätte sich stattdessen durchaus an den systematischen Stichwortüberschriften seiner Kapitel orientieren können. Dann wäre zu erläutern gewesen, wie sich <
Fehlanzeige ist auch bei der Frage zu melden, wie sich Freiheit und Gleichheit unabhängig vom ost-westlichen Propagandakrieg zueinander verhalten. Wie ist z.B. zu bewerten, dass die anerkannte Führungsmacht der <
Bevor ich das Nörgeln beende, ein paar Sätze zu Titel und Untertitel. Prätenziöser ging es wohl nicht, Herr Diner!? <
Zu guter Letzt möchte ich dennoch einige Pluspunkte nicht unerwähnt lassen, die das Buch bei aller Kritik aufweist. Diner gelingen nämlich immer wieder auch Passagen mit aufschlussreichen Beobachtungen und Überlegungen, die aus dem Hin und Her der politischen Aktionen herausragen und die dem Verstehen des vergangenen Jahrhunderts ein wenig näher kommen: beispielsweise seine Gedanken zur verheerenden, gleichmacherischen Wirkung der automatischen Waffen im ersten Weltkrieg (S. 41ff); zum englischen Mehrheitswahlrecht, das zum Konsens nötigt und extreme Parteien nicht aufkommen lässt (S.155f) oder die methodologischen Betrachtungen zur teleologischen Darstellung der NS-Machtergreifung trotz der Einsicht in ihre Kontingenz (S. 188ff). Das alles ist interessant und lesenswert. Es sind nur leider zu wenige Lichtblicke in einem Buch, das den Eindruck macht, dass sich sein Autor ein hohes Ziel gesteckt und sich im Gestrüpp der Einzelheiten verfangen hat.
Dan Diner, Das Jahrhunder verstehen - eine universalhistorische Deutung, München 1999
Ein Mann (fast) ohne Eigenschaften
von Andreas von der Heyde
Zu Adolf Hitler sind eigentlich genügend Biographien geschrieben worden, sollte man meinen: von Alan Bullock (gleich zweimal), Werner Maser, Joachim Fest (um nur einige bekanntere zu nennen), von Sebastian Haffner die bescheideneren "Anmerkungen". Aber einige wenige Gegenstände der Historiographie sind anscheinend unerschöpflich und verlangen in Abständen eine Neubesichtigung und Neubewertung. Dazu zählt gewiss die Zeit des Nationalsozialismus, und dazu zählt die Person, die mit dieser Zeit nahezu identisch geworden ist.
Zwei dicke Bände über Leben und Zeit Adolf Hitlers (Band 1: 1889 - 1936; Band 2: 1936 - 1945) sind 1998 und 2000 von dem britischen Historiker Ian Kershaw bei DVA erschienen - insgesamt 2300 Seiten - und von der Öffentlichkeit bemerkenswert gut aufgenommen worden. Alles in allem mit Recht, denn Kershaw bietet nicht nur an Quellen und Sekundärliteratur auf, was Küche und Keller zu bieten haben - nahezu 500 Seiten Anmerkungen, Bibliographie und Register in beiden Bänden legen davon eindrucksvoll Zeugnis ab - sondern er versucht sich darüber hinaus an einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses, das die Einseitigkeiten einer personenzentrierten Darstellung vermeiden und den Einfluss von Strukturen und sozialen Bedürfnissen auf das historische Geschehen grösseres Gewicht geben will. Originalton Kershaw:
"Jede Biographie ist natürlich mit dem Wagnis behaftet, komplexe historische Entwicklungen zu personalisieren, die Rolle des Individuums bei der Gestaltung und Bestimmung von Einflüssen zu überschätzen und den sozialen Kontext, in dem diese Geschehnisse stattfanden, zu ignorieren oder herunterzuspielen." (Hitler, Band 1, S.17).
Im Unterschied zu diesem "intentionalistischen" macht sich der "Strukturalist" Kershaw für einen Ansatz stark, der die Frage stellt
"ob die schrecklichen Ereignisse des Dritten Reiches in erster Linie mit Hilfe von Hitlers Persönlichkeit, Ideologie und Willen zu erklären sind oder ob der Diktator selbst nicht zumindest teilweise ein (williger) `Gefangener` von Kräften war, die er nicht geschaffen hatte, sondern deren Instrument er war und deren Eigendynamik ihn mitriß." (Der NS-Staat, S.115) und der diese Frage im Sinne der zweiten Option beantwortet.
Der strukturalistische Ansatz zeigt Hitler folglich nicht als quasi dämonische Persönlichkeit, die anderen ihren Willen aufzwingt, sondern Hitler dient eher als Projektionsfläche für die politischen Wünsche der Deutschen in den 20er und 30er Jahren. Hitlers eigentliche Leistung besteht dann gewissermaßen darin, sich als diese Projektionsfläche anzubieten und die Leerstellen möglichst groß zu halten.
Kershaws Biographie blendet also Persönlichkeit, psychische Struktur, Weltbild und langfristige politische Ziele ihres Protagonisten weitgehend aus. Hitler ist weniger treibende Kraft, vielmehr reagiert er auf neue Ereignisse und Kräftekonstellationen, wobei er Festlegungen nach Möglichkeit vermeidet. Kennzeichnend für diese Perspektive ist Kershaws Bemerkung, als während Hitlers Festungshaft politische Turbulenzen die NSDAP beunruhigen und von Hitler ein klärendes Wort erwartet wird: "So traf er die für ihn charakteristische Entscheidung, sich nicht zu entscheiden." (S.288)
Das geringe Interesse für Hitlers Ideologie und politische Pläne lässt sich denn auch für die einzelnen Stationen seiner Laufbahn durchdeklinieren. Kershaw hält es z.B. für nicht entscheidbar, was der Grund von Hitlers Antisemitismus gewesen sein mag, ob dieser schon in Linz voll ausgeprägt war oder sich erst (ab 1907/08) in Wien ausgebildet hat, als Hitler nachweislich noch Umgang mit Juden pflegte. Die wesentlichen Quellen sind nicht eindeutig: nach "Mein Kampf" wird Hitler während seiner Wiener Zeit zum Antisemiten, A. Kubizek weiss in seinen Erinnerungen bereits für die Jahre in Linz vom Antisemitismus des Jugendfreundes zu berichten (S.97ff.). Bei ungesicherter Quellenlage kann der Historiker nur Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abwägen. Kershaw erscheint es glaubhaft, dass bei Hitler in seiner Wiener Zeit zunächst durch Lektüre und eigene Enttäuschungen ein Judenhass entstanden ist, der nach dem ersten Weltkrieg und als Reaktion auf die Niederlage zu einer festen Ideologie wird - wie der erste Weltkrieg für Kershaw überhaupt als notwendige Voraussetzung des Ideologen Hitler einzuschätzen ist (S.118).
Dementsprechend schenkt Kershaw auch den Bildungserlebnissen Hitlers kaum Beachtung, die etwa Maser, Fest und Haffner noch ausführlich traktierten. Die Begegnung mit Wagners Opern - schon in Linz hatte Hitler eine Aufführung des "Rienzi" gesehen -, der Fest so viel abgewinnen konnte, ist Kershaw kaum ein paar Sätze wert. Was Hitler wann an Literatur, Musik, Geschichte, Architektur gelesen oder sonstwie aufgeschnappt hat bleibt ganz weitgehend im Dunkeln (S.75).
Gewiss könnte Kershaw geltend machen, dass die Quellen recht zweifelhaft sind und Hitlers Privatlektüre seine Wirkung auf die Deutschen und seine politischen Erfolge nicht erklären. Dennoch: eine Biographie darf die entscheidenden Entwicklungsjahre ihres Protagonisten nicht derart unterbelichtet lassen. Das gilt übrigens auch für das in "Mein Kampf" niedergelegte politische Programm.
Auf dieser Linie ist Hitler für Kershaw nach Kriegsende nicht jemand, der sofort die Politik für sich entdeckt; wir treffen Hitler im April 1919 zunächst als einen der Soldatenräte an, die mit der sozialistischen Regierung Bayerns aus SPD und USPD zusammenarbeiten. Der Eintritt in die Deutsche Arbeiterpartei scheint dann weniger ein Entschluss Hitlers gewesen zu sein, sondern er wird durch Zufall als talentierter Redner entdeckt und vom Vorsitzenden Anton Drexler eingeladen, der reichlich bedeutungslosen Partei beizutreten (S.170ff). Der DAP (ab 1920 NSDAP) hätte kaum etwas Besseres passieren können: Hitler wird
in wenigen Jahren zur Bierkellerattraktion der Republikfeinde.
Ein anderes Beispiel: nach dem gescheiterten Putschversuch 1923 kommt einem im Grunde gescheiterten Hitler die Schwäche der Weimarer Republik zu Hilfe. Nicht nur wird während der Verhandlung gegen die Putschisten Hitler Gelegenheit zu Propagandareden gegen die Republik gegeben, das Urteil lautet außerdem nur auf fünf Jahre Festungshaft, von denen Hitler lediglich gut 12 Monate verbüßt. Während seiner Haft wird Hitler zum Star der Festung Landsberg: für ihn treffen Geschenke und Blumen von Verehrern ein, und er darf praktisch unbegrenzt Besuch empfangen (S.272ff). In diesen 18 Monaten entsteht so etwas wie ein erster Hitler-Kult. Wahrscheinlich hat ihn seine Haftzeit mehr als seine bisherige politische Tätigkeit in Deutschland bekannt gemacht. Nach der Haftzeit wird Hitler nicht etwa als österreichischer Staatsbürger aus Deutschland ausgewiesen, sondern er darf sich wieder politisch betätigen. Das Verbot der NSDAP wird im Februar 1925 aufgehoben.
Ein letztes Beispiel, in welchem Maß äußere Umstände Hitlers Aufstieg beeinflusst haben: zum Jahreswechsel 1932/33 steht der Erfolg wieder einmal auf des Messers Schneide. Die Novemberwahlen haben der NSDAP Stimmeneinbussen beschert, die Moral der Partei ist schlecht, es gibt Putschgerüchte. Hitler scheint der Macht zum Greifen nahe zu sein, aber da der Reichspräsident ihn ablehnt kann er seine Hoffnung nur auf die Politiker setzen, die Zugang zu Hindenburg haben. Hitler soll in dieser Situation bereit gewesen sein, "in 3 Minuten Schluß" zu mache (S.498), wenn er dieses mal keinen Erfolg hat. Schliesslich sind es Papen, Schleicher und der Kreis um Hindenburg, die für ihn tätig werden und ihn ins Kanzleramt "hieven".
Der erste Band von Kershaw Biographie lässt also den Eindruck entstehen, dass Hitlers Laufbahn und sein Erfolg ganz wesentlich ein Ergebnis von Umständen war, auf die der spätere "Führer"
nur zum geringsten Teil wirklich Einfluss nehmen konnte. Dem will ich auch gar nicht widersprechen.
Hitlers Persönlichkeit bleibt dagegen reichlich unscharf und verschwindet nahezu hinter dem Nacheinander von Handlungen, dem eine politische Absicht kaum zu entnehmen ist. "Hitler war und blieb vor allem ein Propagandist" (S. 673), der fasziniert war von seiner außergewöhnlichen Wirkung auf Menschenmassen, sobald er öffentlich redete.
Im Ergebnis kann Kershaw einen entzauberten, entdämonisierten und allerdings auch einen merkwürdig substanzlosen Hitler präsentieren, der mehr zufällig als absichtsvoll Politiker wird und über dessen Glück ("Doch wie so oft kam Hitler das Glück zu Hilfe", S.345) und Durchhaltevermögen man sich nur wundern kann. Für seinen "strukturalistischen" Ansatz zahlt Kershaw also keinen geringen Preis: er muss den Ideologen und Weltanschauungsfanatiker Hitler ganz weitgehend unter den Tisch fallen lassen, weil er den "intentionalistischen Fehlschluss" von der Absicht auf die Ausführung vermeiden möchte. Aber führt eine ausführliche Darstellung der Ideologie Hitlers unvermeidlich zum "intentionalistischen Fehlschluss"? Ich meine: nein - schon gar nicht bei einem so methodenbewussten Historiker wie Kershaw. Wenn jedoch schon die eingehende Darstellung von Hitlers Weltanschauung den Eindruck nahelegen sollte, dass Plan und Politik ganz unmittelbar zusammenhängen, dann hätte sich der Strukturalist zu fragen, ob seine Methode nicht am Ende das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Nach dem Genörgel noch etwas Positives: ich habe den ersten Band sehr zügig gelesen, weil Kershaw einen angenehm flüssigen Stil schreibt, der kaum ahnen lässt, welche Materialfülle der Autor verarbeitet hat. Die Dokumente der Gelehrsamkeit im Apparat kann man vernachlässigen, ohne deshalb Verständnisprobleme in Kauf nehmen zu müssen. Von den Eigenheiten der strukturalistischen Methode abgesehen handelt es
sich um einen sehr informativen ersten Band. Hoffentlich hält der zweite das Versprechen.
Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998